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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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denken ließ, das ich am ersten Tag unserer Wanderung zu beschreiben versucht hatte. Unter den 227 Gewächsen, die der Botaniker im Jahr 1925 auf Kolgujew sammelte, waren gewiss auch die »fliederfarbenen Blümchen«, aber das Unglück will, dass Tolmatschow die Sprache seines Wissensgebiets, Latein, so vertraut war, dass er es nicht für nötig hielt, die Pflanzennamen zumindest ins Deutsche zu übersetzen, weshalb die »fliederfarbenen Blümchen« gleichermaßen Sedum roseum, Geum rivale wie Viola biflora gewesen sein können.
    Mich überkam eine Verstimmung, die mit Beschämung zu tun hatte.
    Ich hätte mich wohl mehr um die Sprache kümmern sollen – dieses einzige Ausdrucksmittel, das mir halbwegs zu Gebote steht. Bestimmt lohnte es sich, ein, zwei Wochen auf die Klassifikation und die Namen der Pflanzen zu verwenden, um die Sprache nicht in den Dienst der Analogiebildung zu nehmen – die zwar sehr verlockend ist, aber mitunter doch sehr vage.
    Jeder Übersetzer weiß, was das exakte Wort wert ist.
    »Le corps de Blaise Pascal, mort le 19 août 1662 sur cette paroisse de Sainte-Étienne-du-Mont, a été inhumé près de ce pilier.« 41
    Du weißt nie, wo es dich kalt erwischt.
    Die Kerzenflämmchen neben dem Kasten mit den Reliquien des heiligen Antonius von Padua, das wogende Hin und Her der Flammen von Rot zu Weiß, der besondere trockene Widerhall der Schritte auf den Steinplatten, das Stehpult mit dem aufgeschlagenen Buch, in das die Gläubigen ihre Fürbitten schreiben, die jeden Donnerstag während des Vespergottesdiensts vor der versammelten Gemeinde verlesen werden. Jemand bittet um Heilung der Mutter, ein anderer erfleht auf Spanisch die Versöhnung aller Menschen, zittrig, unleserlich das Gebet eines Greises.
    Und plötzlich – diese Tafel.
    Als junger Mann habe ich Jacques Prévert übersetzt. Dabei kam mir eine seltsame Formulierung unter: »Un certain Blaise Pascal …« Dem Anschein nach war an ihr übersetzerisch nichts schwierig, zumindest von der Grammatik her – wortwörtlich: »Ein gewisser Blaise Pascal …« Aber ich konnte den dahintersteckenden Sinn einfach nicht begreifen, was war an dieser Formulierung poetisch oder wenigstens witzig, wie klingt sie gesprochen, und was drückt sie denn nun aus? Erst viele Jahre später begriff ich, dass sich Prévert schlicht über solche Dummköpfe wie mich lustig machte, die imstande sind, in dieser Formulierung mehr zu sehen als Nonsense. Für einen Franzosen ist sie so unsinnig wie für einen Russen die Formulierung »ein gewisser Lew Tolstoj …«
    Dank Alexandre Dumas kennen wir Russen das Frankreich der drei Musketiere und ahnen nicht einmal, dass dies das Frankreich Pascals war. Das Frankreich seiner
Gedanken
, die sich zu einem einzigen, nahezu mathematisch aufgebauten Ganzen verbinden und erst heutzutage bloß als Aphorismen gesehen werden, da uns jene eminente Gespanntheit von Geist und Verstand unbekannt ist, die den Physiker und Mathematiker, der über das Dreieck reflektiert hatte, dazu brachte, seine Theodizee zu formulieren …
    In Wahrheit fehlt uns jedes Vorstellungsvermögen …
    Mit ebendieser Entdeckung begann für mich Paris: meine unerwartet heftig empfundene Nichtzugehörigkeit, nicht zu Pascal, nicht zu dieser Stadt überhaupt. Es war ein echter, ein tiefgehender, schmerzlicher Schock. Ihn erfahren wahrscheinlich alle, die in diese Stadt kommen, um sich an ihr zu
erproben
– und ich war hierher auch dafür gekommen. Ich dachte, mit den von mir gewonnenen Schätzen hätte ich die Messlatte in jener Höhe angelegt, in der der Raum der Weltliteratur vermessen wird; und plötzlich stellte sich heraus, dass niemand mich in diesen Raum gebeten, sondern ich mich gleich einem Usurpator hineingedrängt hatte, und um ein Haar wäre ich auf Pascals Grab getreten, kaum wissend, wer er ist, während hier jeder x-beliebige Pfaffe – der Schwarze da zum Beispiel, in der roten Soutane, mit dem kahlrasierten Schädel und dem kleinen übriggebliebenen Büschel Kraushaar im Nacken – ganz ungezwungen Zugang zu Pascal hat. Er ist eingewöhnt, er ist kein Fremder, er lebt hier
schon lange
, kennt die Türen und trägt die Schlüssel bei sich, während ich ein erbärmlicher Tourist bin, nicht mal Statist, sondern passiver Zuschauer dieses Stücks namens »Paris«, in welchem er immerhin so viel Glück hatte, die Rolle eines Kirchenmannes zu ergattern …
    Es war ein Augenblick der Selbsterniedrigung vor der großen Stadt. Paris kann ja wirklich

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