Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
erschrecken: zweitausend Jahre Kultur haben einen Panzer von solcher Dicke wachsen lassen, dass einiger Mut dazu gehört, es anzuschauen.
In meinem Band mit Pascals
Pensées
lagen zwei Jahre lang Dias, die ich 1996 am Jenissej aufgenommen hatte.
»Beruf. Gedanken.
Alles ist eins, alles ist verschieden.
Wie viele Naturen gibt es in jener des Menschen. Wie viele Verrichtungen. Und durch welchen Zufall wählt jeder für gewöhnlich das, was er loben hörte. Wohlgeformter Schuhabsatz.«
Die Taiga in einem wohlgeformten Schuhabsatz.
»Denkendes Schilfrohr.
Nicht im Raum muss ich meine Würde suchen, sondern in der Ordnung meines Denkens. Ich werde keinen Vorteil davon haben, wenn ich Grund und Boden besitze. Durch den Raum erfasst und verschlingt das Universum mich wie einen Punkt. Durch das Denken erfasse ich es.«
Hier liegt der Grund dessen, was die Franzosen La Raison nennen, die Vernunft – und zugleich die Erklärung dafür, weshalb sie und wir nie zusammenkommen und einander nie verstehen werden. Und die Erkenntnis, dass du aufgrund deiner konkreten Geburt gezwungen bist, einem anderen Weg zu folgen und eine andere Wahrheit zu verkünden, eine andere Weisheit, die Weisheit des russischen Menschen, die keinesfalls vernünftig sein kann, sondern nur gottgefällig – diese Erkenntnis, sie brach sich Bahn, als du jäh mit der unumstößlichen Tatsache konfrontiert worden bist, dass Pascal – dass der wirklich gelebt hat. Er ist hier beerdigt. Und er ist Teil dieser prächtigen Zivilisation, eine der Säulen ihrer Vernunft, ihrer Raison d’être, die zu erfassen wir unfähig sind, so wie wir uns als unfähig erwiesen haben, etwas, das ihrer Pracht vergleichbar wäre, zu erschaffen …
Aber woher kam (kommt, wird weiterhin kommen) dieser Wunsch, unsere Moskaus, Witebsks, Odessas, unsere Wälder, Sümpfe, wasserlosen Täler zu verlassen und Paris etwas zu beweisen, es zu beeindrucken? Woher dieser unverkennbare Drang nach hier – zu diesem uns absolut fremden Ufer?
Das, M’sieur Pascal, ist und bleibt ein Rätsel.
Mir fiel ein Satz aus einem in Paris geführten Gespräch wieder ein, das ich als freimütig erlebte: »Ich weiß, dass Deutschland existiert. Und weiter: Russland, Sibirien … Aber das sind doch Wörter, nichts als Wörter …«
Der Erste, der in französischer Sprache über Russland geschrieben hat, war Gilbert de Lannoy, Ritter in burgundischen und englischen Diensten, der sich dem Deutschen, später dem Livländischen Orden anschloss – selbstverständlich, um sich als Teilnehmer an deren (siegreichen) Heerzügen zu bereichern. Der Meister des Livländischen Ordens musste den jungen Abenteurer freilich enttäuschen, hatte man doch mit Nowgorod Frieden geschlossen, und das Einzige, was er für den nach starken Gefühlen dürstenden Fremdling zu tun vermochte, war, ihn mit einer Mission nach Groß-Nowgorod zu entsenden. So geriet im Jahre 1413 erstmals ein Gesandter in russische Lande, den wir, um die Sache nicht mit Fragen feudalen Grund- und Bodenbesitzes zu verkomplizieren, einen Vertreter der französischen Nation nennen möchten. Auf brach er mit dem Schwert, wieder kehrte er mit Erstaunen. Genau dasselbe hätte über sich wohl auch Napoleon sagen können.
Auch dies ein Rätsel, M’sieur Pascal.
Ein ebensolches Rätsel wie die französischen Bücher in der Bibliothek von Puschkin und Tolstoj und fast jedes gebildeten Russen von damals.
Aber es gibt wohl noch romantischere Rätsel. Zum Beispiel dieses um die seltsame Inschrift auf der Glocke des Glockenturms von Njonoksa unweit von Archangelsk, die wegen ihres hellen Klangs unter der Bewohnerschaft »Schwan« genannt wird; auf ihrer oberen Flanke ist folgende Zeile eingegossen: »Damp Anthoine Reverze abbé d’Auchi, damp David du Bus, abbé du Domp-Martin, messire Gille du Bois chi r s r de Guinit m’ont donné a nom Marie MDC LX VI.« Was soviel heißt wie: »Herr Abt Antonius von St. Martin d’Auchi, Herr Abt David von Dommartin und der Ritter Gille du Bois hoher Herr von Guinit haben mich auf den Namen ›Maria‹ getauft im Jahre 1666.«
Wo liegen die Klöster von Auchi und Dommartin und wo Njonoksa? Wie, unter welchen Umständen und von wem wurde die französische Glocke hierher verbracht? Und wann? Wir wissen es nicht.
Barents nahm nach China zahlreiche wunderliche Gegenstände mit, Glocken aber hatte er keine an Bord.
Klar ist bloß, dass Zusammentreffen dieser Art nicht zufällig sind. Auch ich bin ja nicht zufällig
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