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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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hierher geraten, ins Dickicht der Kultur, oder seinerzeit mein Freund Paul Noujem nach Moskau.
    Er schreibt an der Sorbonne an einer Doktorarbeit über Karabtschijewski.
    Ob sich heute noch viele Studenten der Moskauer philologischen Fakultät an den Schriftsteller Juri Karabtschijewski erinnern? Wohl kaum. Obschon er ein guter Schriftsteller war. Ein rechtschaffener. Den ein inneres Drama dermaßen ausfüllte, dass er es nicht »in Schaffenskraft« überführen konnte: Er setzte seinem Leben ein Ende.
    Aber jeder findet genau das, was er braucht.
    Ich fand ein Buch über Saint-John Perse, nicht das beste wahrscheinlich, aber damals, dort kam es mir großartig vor, erfüllt von einer gefährlichen, berauschenden Tiefe:
Saint-John Perse. L’Être et le nom
(»Das Sein und der Name«; darin unter anderem diese Kapitel: »Auf der Suche nach dem reinen Wort«, »Das Wort und das Maß des Menschen«).
    »Es war nicht genug, daß so viel Meere, es war nicht genug, daß so viel Erden den Lauf unserer Jahre auseinanderstreuten. Auf dem neuen Ufer, wo wir, als wachsende Last, das Netz unserer Straßen einholen, bedurfte es noch all dieser Choräle des Schnees, um uns die Spur unserer Schritte zu rauben … Verschwenderischer Schnee der Abwesenheit, breitest du aus auf den Wegen der weitesten Erde die Richtung und das Maß unserer Jahre, grausamer Schnee am Herzen der Frauen, wo das Warten sich erschöpft?«
    Seltsamerweise helfen mir diese Zeilen, wieder und wieder schneidend scharf die Ödnis der dem Wind geöffneten Räume zu empfinden, die dem Strand jenes Tages glichen. Vielleicht ist Saint-John Perse der beste französische Lyriker des 20. Jahrhunderts. Aber die junge Frau an der Kasse kannte ihn offenbar nicht: Über seinem Namen klebte nämlich das Preisschild, und als sie dem Kontrolleur den Titel des Buches nannte, versuchte sie auf komische Weise, sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie tat, als kenne sie ihn …
    Vielleicht klang der Name für sie wie Jon Pearce, denn nur die ersten Buchstaben waren überklebt: »…hn Perse«.
    Eine Schatzkammer.
    Diese ganze Stadt ist eine Schatzkammer. Das spürte ich im Stadtpalais der Äbte von Cluny (auf die, nebenbei, die erste lateinische Koran-Übersetzung im 12. Jahrhundert zurückgeht), kaum dass ich den Buchladen betrat, der zum Museum des Mittelalters gehört. Mich packte der Wunsch, sofort alles zu kaufen und diese Bücher, die hier keiner braucht, mitzunehmen in meine heimischen Wälder, damit dort, bei uns, über diesen Reichtum der eine staunt, der andere sich freut, der dritte ihn nutzt. Durch Europa gelangten stets
Wunderdinge
zu uns, und Paris ist eine Kunstkammer, bloß dass es hier aus unerfindlichem Grund erlaubt ist, die wunderlichen Exponate käuflich zu erwerben …
    Der Hall der Schritte in den Sälen. Skulpturen in einem glasüberdachten kleinen Hof, der unmittelbar an die Überreste der römischen Thermen angrenzt, die ihrerseits unter offenem Himmel liegen, von der Straße nur durch einen Eisenzaun abgegrenzt; eine massive steinerne Wanne aus jener Epoche …
    Wenn man bedenkt … Sich wirklich hineindenkt … Durch welch mächtige Schicht man hier im Grunde geht … Les thermes gallo-romains de Cluny, l’hôtel des abbés de Cluny …
    Lang stand ich in dem dunklen Saal mit den alten Glasfenstern, konzentrierte mich bald auf eine einzelne Darstellung, dann wieder wurde mein Blick von einer der blauen, grünen oder roten Pfützen abgelenkt, die das hier in diese Finsternis einsickernde Licht auf den Boden warf … Die Fenster als solche vermitteln nicht den Eindruck der Vollkommenheit, die Bleiruten sind viel zu dick, mit modernen Materialien ließen sie sich wesentlich filigraner gestalten, aber Fenster dieser Art braucht heute keine mehr, leider, keiner braucht mehr die irdischen Geschöpfe oder Apostel und all das, denn der Glaube ist versiegt …
    Für wen sind dann aber diese Schätze hier?
    Für die wenigen, die herkommen.
    Wozu?
    Zu irgendeinem Zweck. Genauer lässt sich darauf nicht antworten: wir leben in der niederdrückenden Unbestimmtheit einer Jahrtausendwende.
    Stirbt eine Kultur, so findet sie sich ein Museum. Croix pectorales, Brustkreuze aus hauchdünn gehämmerten Goldblättchen; Magie des Goldes; sein warmes Leuchten, sein Gewicht – la lourdeur de l’or. Chaîne en or torsadé, bracelets d’or, bracelets spirales en or; rose d’or sur fond rouge sang. 42 Silber auf blauem Grund – Himmelsblau, Pokale und kalt schimmernde

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