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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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teilen – und diese Gabe ist wertvoller, als es scheinen mag. Ich dachte, irgendwen für mein Buch interessieren zu können, aber Paris ist wenig geneigt, sich für Projekte zu interessieren; ihm wird zu viel Fertiges angeboten. Zudem Unterschiedlichstes und Raffiniertes. Diese ganze Stadt rafft und konsumiert erschreckend schnell und in unvorstellbaren Mengen. Und wer glaubt, Paris habe nie in den Spiegel der Leere geschaut, der ist naiv: Es tut nichts lieber als in Spiegel zu schauen! Und in diesen Spiegeln waren wie in einem Kaleidoskop die Wüste von Nazca aufgetaucht und das Große Sandmeer der Sahara, die Höhlenzeichnungen des Tassili, die Eiswüsten von Grönland, die Leere der roten Wüsten Australiens mit ihren chagaförmigen »Teufelsmurmeln« und die sich aus der Leere des Festlandes in die Leere des Ozeans ergießenden Deltas der großen Ströme – Kolyma, Lena, Mackanzie –, die wüsten Hochebenen und Solontschaken und Strände der ganzen Welt. Paris hat alles was das Herz begehrt gesehen und sogar ein bisschen mehr – außer Kolgujew.
    Aber trotzdem wollte Paris keine Notiz davon nehmen.
    Auf Kolgujew konnte es pfeifen.
    Es kam ein Moment, da erinnerte ich mich dankbar der Insel, wo jeder Gegenstand – sei es ein abgerissener Beamtenuniformknopf aus zaristischer Zeit, ein pomorisches Messer, ein norwegisches Gewehr oder das Fernrohr eines englischen Reisenden – sorgfältiger auf bewahrt wird als in jedem Museum und den Menschen unvergleichlich viel mehr bedeutet als alle zu Museumsexponaten transformierten Schätze des Louvre.
    Anscheinend widersetzt sich das Schöne dem leichten Erwerb; nach drei Tagen wurde mir allein schon beim Gedanken an ein Museum übel, als hätte ich mich mit etwas zu Kalorienreichem vergiftet.
    Ich erinnere mich, dass ich bei einer angesäuselten Bouquinistin eine Schelle kaufte, un grelot.
    Ich genoss es, den leeren Quai entlangzugehen. Es regnete.
    Um fünf trafen wir uns an der Pyramide des Louvre, Liebste, und gingen hinüber zu den Tuilerien. Im runden Wasserbecken zogen unterm Regen winzige Segelyachten ihre Bahn. Bei einer waren die Segel so mit Wasser vollgesogen, dass sie sich ständig auf die Seite legte. Ein junger Mann, der einen ganzen Karren voll davon hat, vermietet diese Yachten für ein, zwei Stunden. Ein kleines Café unter Platanen, ein Kaffee. Ein kleiner, rechteckiger Tümpel, Schilf, das Spiegelbild der Venus-Statue im Wasser. Alle fünf Minuten taucht jemand mit Fotoapparat auf, bemerkt das ungewöhnliche Motiv – die weiße Statue im dunklen Wasser – und ist überzeugt, einen einzigartigen Ort, ein einzigartiges Motiv gefunden zu haben. Der Blick, das Zücken des Apparats, die Aufnahme, der Abgang. Und fünf Minuten später der nächste …
    Was kostete dagegen jede von Kolgujew zurückgebrachte Aufnahme …
    Und es gab einen Moment, da fühlte ich mich gekränkt und wurde wütend auf Paris.
    Diese vollgefressene, abgestumpfte, gefühllose Stadt.
    Diese Stadt, in der die Tauben krepieren, weil sie sich an der Schokolade überfressen, die die Touristen nicht aufessen. Hier, da krepiert gerade wieder so eine: der Blick ist schon verschleiert, nur die Flügel schlagen noch auf den Asphalt einen aus dem Takt geratenen, absterbenden Rhythmus.
    Das Blendwerk der Champs-Elysées: nichts Echtes; ein einziger gigantischer Supermarkt, ein einziges riesiges Café, dessen Sitze wie Kinosessel Richtung Straße ausgerichtet sind. Am Abend werden die Touristen sich hier »das Schauspiel des Lebens« ansehen, sprich: andere Touristen. Wenn sie nicht gerade in einer der Passagen die Verkäufer von Vogeltröten begucken, die in den unterschiedlichsten Tönen pfeifen. Es gab einen Moment, da kam es mir vor, als sei das alles
unwirklich
.
    Wie der Goldfisch. Ein Schleierschwanz. Das Wasser im Aquarium des winzigen Chinarestaurants wirkt wie schwach mit violetter Tinte eingefärbt; zwischen zwei Säulen vom Boden aufsteigender Luftblasen bewegt das weiße (und doch einen Tick violette) Fischchen seine Flossen, ewiger schöner Gefangener.
    Ein weiterer Versuch, sich durch Essen und Kaffeetrinken aufzumuntern: Wie hasse ich doch Kaffee und gemütliche Restaurants, fuck it. Wo ist bloß die Kraft, wo die Stärke dieser Zivilisation, où est la puissance? Ein Schwarzer auf einem Motorrad: rotbehelmt auf einer funkelnden schweren Maschine mit im Takt des stählernen Motorherzens wummernden Boxen (Schlagzeug und Percussion). Das allenfalls ist Stärke. Nur die

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