Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
Vom Netzwerk:
Schwerter, l’argent luisant 43 … Magie des Lichts, Magie goldener Blätter und Blütenblätter auf rotem Grund und von hellgrauen Klingen auf himmelblauem … Das opulente Gewicht des Goldes. Als ob der Meister sich daran erfreue, an der Massivität, der Dicke und dem Glanz des Goldes: er hat die eigentliche Maßeinheit des Geizes noch nicht verinnerlicht, noch keine Beziehung zum Gold als allgemeinem Äquivalent. Es ist noch ein Schatz in sich, ist
einfach schön
– in noch höherem Grade spürt man dies bei skythischem oder indianischem Gold …
    Das Blau des Silbers. Gotisches Silber. Gotische Reliquienbehältnisse – in Gestalt von Pokalen, Kerzenhaltern oder Lampen mit dicken Glaseinsätzen. Blaues Emaille auf wiederum blauem Grund: ein Gefühl von Tiefe, Meeres- oder Himmelstiefe …
    Ein Kamin: gusseiserne Zangen, Schüreisen, um in der Kohle zu stochern, und Haken, eine Eisenform, um über dem Feuer einen Fisch von der Größe eines ordentlichen Karpfens zu garen, auch Backformen, eine schwere geschnitzte Bank …

Der Jardin des Plantes. Reihen von Platanen mit gestutzten Kronen, Blumenrabatten, ein winziges Labyrinth im Geist des 18. Jahrhunderts: eine einfache Spirale, die sich einen Hügel hinauf zu einer Laube windet – einem Lusthäuschen, une folie. Das Denkmal des Chevalier de Lamarck. Generell spürt man das 18. Jahrhundert in Paris nirgends so deutlich wie hier. Ich war hergekommen, weil ich ein Buch suchte,
Les Champignons toxiques et hallucinogènes
, ein Standardwerk, in dem ich Antworten auf einige Fragen zur Verwendung von Psychedelika im schamanischen Ritual zu finden hoffte. Im Jardin des Plantes wurde gerade der Salon du Champignon abgehalten und ich hatte im gemeinsamen Onlinekatalog der Pariser Museumsshops einen Hinweis auf ein Exemplar im Buchladen der Ausstellung gefunden. Aber irgendjemand musste es schon vor mir gekauft haben, denn ich fand es nicht. Der Salon war in einem mitten im botanischen Garten aufgeschlagenen großen grünen Zelt untergebracht, auf kleinen Tischen lagen, hübsch arrangiert, allerlei Pilze. Aber fast alles bekannte Arten. Sogar einige Psilocybe – allerdings nicht in ausreichender Stückzahl, um einen Cocktail zu brauen, der die Wahrnehmung verändern und Halluzinationen hervorrufen konnte.
    Vor genau zwei Monaten saß ich mit Alik auf dem Gipfel der Ostryje Sopki, jener Blauen Berge von Kolgujew, zu denen wir endlich gewandert waren, und nachdem wir uns am Fernblick sattgesehen hatten, legten wir uns auf den trockenen Abhang, der ganz von einer hellen Flechte überwachsen war.
    »Sag mal«, fragte ich, »gibts in der Tundra halluzinogene Pflanzen?«
    »Hallu… was?«
    »Pflanzen, die das Bewusstsein verändern. Als ob du betrunken bist oder im Wachzustand träumst …«
    »Weiß nicht …«
    »Wie, du weißt nicht? Vielleicht trennt uns von der direkten Kommunikation mit den Geistern nur eine Handvoll Moos …«
    Alik überlegte.
    »Zum Beispiel … Fliegenpilze?«, suggerierte ich.
    »Fliegenpilze wachsen auf Kolgujew keine. Höchstens Täublinge. Einen in getrocknetem Zustand gegessen, und du schläfst.«
    »Man schläft einfach?«
    »Ja.«
    »Uninteressant.«
    »Was hast du denn gegen den Schlaf?«
    Die Frage traf mich unerwartet.
    »Gegen den Schlaf? Also eigentlich nichts. Eine hochinteressante Wissenschaft, über die ich aber fast nichts weiß. Mir sagen meine Träume fast nie etwas«, gab ich zu.
    »Mir schon.«
    »Und worüber sagen sie dir was?«
    »Über alles.«
    Es ist natürlich die Frage, wie man schläft. Und wozu. Wenn man ernsthaft über die Eigenschaften von Raum und Zeit nachdenkt, muss dabei unbedingt auch das Träumen als höchst bedeutendes Kulturphänomen berücksichtigt werden. Die nichtlineare, zyklische Zeit setzt ein ausgeprägtes Schlafvermögen voraus. Schlaflosigkeit führt in der Polarnacht unausweichlich in den Irrsinn, weshalb guter Schlaf hier ein echter Wert und ein wichtiges Vermögen ist. Er erlaubt, wie beiläufig durch die winterlichen »Streckungen« der Zeit hindurchzuschlüpfen und Kräfte zu sammeln, vielleicht auch, ein hochinteressantes paralleles Leben zu leben und in den Träumen wichtige Ratschläge zu bekommen. Deshalb hat Alik Recht: Das Vermögen zu schlafen muss als eine herrliche Gabe geschätzt werden, die der »zivilisierte Mensch« wie viele andere Gaben der Natur verloren hat.
    Aber wenn der Fliegenpilz auf Kolgujew nicht vorkommt, so bedeutet dies, dass die Inselschamanen vergangener Zeiten

Weitere Kostenlose Bücher