Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Geweih eines in extremer Hysterie um sich schlagenden Männchens wegducke, sehe ich unten kurz ein Kalb, dessen eines Auge ausgelaufen ist … Nach und nach gelingt es uns, eines nach dem andern das anderthalb Dutzend Rene aus der Arbeitskammer in den Impfpferch zu treiben, wo das in einem Gummianzug steckende, vom klebrig-süßlichen Geruch des Impfstoffs halb erstickte Wesen dem Tier kurz mit der Impfpistole in den Schenkel sticht. Zuletzt verbleiben nur noch die jungen Tiere, in einem Angstkrampf erstarrt auf dem Boden liegend. Bringen ein paar Hiebe sie nicht auf die Beine, werden sie am jungen Geweih gepackt und via Impf kammer in die Freiheit gezerrt. Außerhalb des Korrals begreift das Tier früher oder später, dass es im Prinzip frei ist. Und dann jagt es verblüfft in die Tundra davon.
Die Welt könnte sich für die Rene schneller wieder öffnen, wenn sie sich vernünftiger verhielten und zum Beispiel nach einer internen Herdenhierarchie sich zur Impfung anstellen würden und außerdem von sich aus die Kränklichen der Schlachtung zuführten. Eine solche Einrichtung der Dinge böte für beide Seiten beträchtliche Vorteile. Aber in der Luft liegt eben eindeutig etwas von SS. Dem widersetzt sich aus irgendeinem Grund die Natur. Sie lässt Gewalt und sogar Tod zu, aber nicht in dieser seelenlosen, mechanischen Form.
Ich schätze das Ren als herrliches Geschöpf und frage mich die ganze Zeit, was die Natur uns sagen will, indem sie in der Interaktion zwischen uns und ihm so viel Entsetzen und Bosheit zulässt. Dahinter verbirgt sich eindeutig eine Warnung an uns, die Vernunftbegabten, von ihnen, den Vernunftlosen. Aber welche? Ich komme einfach nicht dahinter, kriege es nicht zu fassen …
Die nächste Runde, die dritte, die fünfzehnte …
Die Kräfte lassen immer mehr nach, immer häufiger müssen wir im Arbeitspferch die Rene mit Fußtritten weiterscheuchen: die Arme können nicht mehr; außerdem ist es einfacher so, ungefährlicher und schneller. Ein Bürschchen von vielleicht sechzehn ist so aufgepeitscht, dass er offen grausam wird, er hat es immerzu auf die jungen Rene abgesehen, zerbricht ihnen nebenbei das Geweih, und aus dem Stumpf schießt sofort das Blut wie aus einem Baum im Frühjahr der Saft. Auch der Zootechniker in der Impf kammer, Wolodja, ist müde, haut stumpf den Renen die Pistole auf die Flanke, ein Wink, der nächste Schuss, die Hand im Gummihandschuh ist eiskalt und gefühllos, und der in den Sand tropfende Impfstoff stinkt zuletzt so unerträglich, dass Wolodja schreit, wir sollten ihm keine neuen Tiere zutreiben, er muss rauchen, muss dieses klebrige Zeug mit dem scharfen Geruch einer Papyrossa überdecken. Alle außer den im Korral kreisenden Renen bleiben stehen. Meine Handflächen sind ungewohnt klebrig. Ich schaue: Blut. Sämtliche Stiefel, sämtliche Jeans sind blutbesudelt …
Die Dämmerung ist die Stunde des Todes. Die Alten ziehen aus gedunkelten hölzernen, mit glänzendem Kupfer beschlagenen Scheiden rasierklingenscharfe Messer hervor, die vorzeiten Norweger oder russische Kaufleute auf die Insel brachten (wo sie seither wie ein Familienschatz gehütet werden), und während sie in Vorwegnahme des Genusses, den das gute und reichliche Essen ihnen bereiten wird, kleine Seufzer ausstoßen, kontrollieren sie, ob die Hand noch sicher ist.
Ich habe gesagt, der Tod eines Rens sei kein Drama. Und doch werde ich nie vergessen, wie
schnell
das Auge eines geschlachteten Tiers matt wird und erlischt. Wenn das Auge nur ein optisches Instrument ist,
was
hat es dann belebt und
wohin
ist dies verschwunden?!
Ich erinnere mich auch an ein Ren, das zwischen ausgeweideten Leibern lag, inmitten des Blutgeruchs und der bläulichen, auf den Boden herausgezerrten Eingeweide. Es hat alles gesehen, dieses Ren, alles begriffen. Es fehlte einfach ein Schlachter, und so musste es auf seinen Tod warten …
Ich habe auch gesehen, wie ein Ren verschnitten wird. Zunächst wird ein Bulle ausgesucht, der möglichst wild und stark ist. Für diese Qualitäten wird er dem Wesen teuer bezahlen müssen. Das Schicksal spottet hier grausam: Es ist, als würde man bei uns, den Menschen, gerade die kräftigsten Männer kastrieren.
Dann schleichen sich ein paar Mann an ihn heran, fangen ihn mit der Wurfschlinge, zerren ihn, der sich dagegen anstemmt, zu einem der Korralpflöcke, binden ihn fest. Er kann sich nicht befreien, steht aber, den Strick wie eine Saite spannend, mit widerspenstig auf die Brust
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