Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
stimmte mich mit dem zweideutigen Mitgefühl des Städters darauf ein, auf gebührende Weise dem Tod des Tieres beizuwohnen, seiner Verwandlung in Fleisch, das als Einziges in der Tundra den quälenden Hunger zu stillen und dem Körper Wärme zu geben vermag, weil es die Haut des Menschen von innen gegen die allesdurchdringende Kälte schützt. In dieser Verfassung ging ich aus dem Balok zum Feuer, um mir Tee nachzugießen. Dabei bemerkte ich, dass hinter mir noch jemand in die Dämmerung hinaustrat, zu dem Ren hinüberging und sich über es beugte. Sobald ich mir nachgeschenkt hatte – eine Sache von zwei, drei Sekunden – sah ich wieder dorthin, wo das Ren lag. Alles wirkte unverändert. Doch zugleich kam es mir so vor, als habe der Mann, der den Kopf des Rens angehoben hatte, ihm der Länge nach die Kehle aufgeschlitzt. Ich schreibe »kam es mir so vor, als ob«, weil es mir ganz unvorstellbar schien, dass in dem Zeitraum, in dem ich Tee in meinen Pott gegossen hatte, das Ren aufgehört haben sollte, ein lebendiges Geschöpf zu sein: es hatte kein Auf bäumen, kein Röcheln, kein Auszittern gegeben. Dennoch war es tot. Der Mann machte eine letzte, kaum merkliche Bewegung mit dem Messer, als schneide er in der Kehle des Tieres irgendein Knorpelchen durch, dann legte er den Kopf vorsichtig wieder auf dem Boden ab.
Ein erster schneller Messerhieb wird dem Ren unterhalb der Schädelbasis versetzt, der zweite ins Herz (diese beiden hatte ich wegen des Teenachschenkens nicht mitbekommen). Werden die Stiche nicht präzis genug versetzt, glimmt im Ren noch ein Lebensfunke und seine Augen beginnen zu kreisen, seine Lippen zu zittern wie bei einem Parkinson-Patienten. Aber normalerweise wird das Messer mit chirurgischer Präzision geführt, und wenn dem Tier die Kehle aufgeschlitzt wird, zuckt es nicht mehr.
Der Tod eines Rens ist kein Drama. Denn in dem Moment, da der Mensch zum Messer greift, um es zu schlachten, ist das Ren in einem gewissen Sinn des Wortes schon kein Ren mehr. Es ist nicht länger dieses Tier voller Kraft, Grazie und innerer Freiheit, welches der Wille der Natur dazu verdammt hat, in der Tundra dem Menschen gegenüberzustehen, es ist ein erloschener, allem gegenüber indifferenter Körper. Das gefesselte Ren wehrt sich nicht mehr, als hätte der Mensch, der es gebunden und seiner Beweglichkeit beraubt hat, seinen Willen gebrochen. Es kommt vor, dass gefesselte Tiere von allein sterben, als wollten sie dem unausweichlichen Tod zuvorkommen. Denn das Leben des Rens ist – Bewegung.
Das Ren erträgt den Menschen nicht und fürchtet ihn, wahrscheinlich, weil es spürt, dass der Mensch kein Tier ist, sondern –
das Wesen
.
Ein Geschöpf, das im Unterschied zu jedem anderen von der Natur ohne klare Bestimmung hervorgebracht wurde, aber ausgestattet mit der Macht der List. Es besitzt nicht sonderlich viel Kraft, dieses Wesen, ist aber weit über seine Kräfte hinaus mächtig, mitunter auch gierig und grausam. Die Rentiere wissen, dass der Mensch eine besondere Kreatur ist, herausgerissen aus der brüderlichen Gemeinschaft der Naturgeschöpfe, und gehen ihm, wie alle Tiere, als einem aus der Bruderschaft Gefallenen aus dem Weg.
Rene mögen Pilze ausgesprochen gern, aber so leckermäulig sie sind – einen durch menschliche Berührung besudelten Pilz fressen sie nicht. Wo Menschen auftauchen, da gehen sie in entgegengesetzter Richtung davon; darauf beruht, so erstaunlich das zunächst klingen mag, die ganze renhalterische Taktik. Und auch ein Gespann, das gleichermaßen leicht über Schnee und ebene Bültentundra dahinfliegt, ist nichts als die Illusion einer Mensch-Tier-Gemeinschaft. Man braucht sich bloß eine Weile in das ausladende, von samtigem Bast überzogene, nahezu dekorative Geweih der Fahrbullen zu vertiefen und es kommt einem wie eine Finte vor: mit diesem Geweih wird nicht gekämpft. Ganz abgesehen davon, dass die Tiere schon gar zu friedfertig sind. Und tatsächlich, ihr Instinkt mit seinem animalischen Kampfwillen und Freiheitsdrang ist abgetötet – sie sind kastriert.
Und trotzdem kann man in der Tundra noch Zeuge eines echten, ergreifenden, ursprünglichen Dramas werden: eines Zweikampfs zwischen Ren und Mensch. Stünde der Ausgang von vornherein hundertprozentig fest, so wäre es kein Drama.
Im Prinzip
ist der Mensch schon stärker als das Ren. Er hantiert mit der Angst – einer Waffe, die dem Tier nicht zu Gebote steht. Aber es kommt vor, dass das Ren seine Angst bezwingt. Und dann
Weitere Kostenlose Bücher