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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Materialberg stattfand, der an eine menschliche Behausung erinnerte. Genauer: Es handelte sich um ein Zelt aus alten Brettern und ebenso altem Ruberoid. Und außerdem schaute uns hinter einem Stück den Eingang verhängenden gummierten Gewebes hervor ein menschliches Augenpaar an.
    »Wasja, schnell die Axt, es geht gleich aus!«, schrie Alik, der mit dem Rücken zu dem Zelt stand. Ich reichte ihm die Axt, da wurde der Vorhang zurückgeschlagen und im dunklen Innern erschien ein Gesicht, dem dieses Augenpaar aufsaß – ein unglaublich dunkles Gesicht, als ob da im Zelt ein Schwarzer hockte; die Lippen darin bewegten sich ein paarmal, dann krächzte plötzlich eine bis aufs Mark – wie ein Baum im Winter – ausgefrorene Stimme:
    »Was machstn da? Gibt doch Öl …«
    Wir waren also doch nicht allein auf diesem Plateau der Winde!
    Vom Dieselöl glühte unser Feuer knisternd auf. Ich konnte den Mann genauer betrachten, der aus seinem Unterschlupf zu uns herauskroch. Zum Glück erkannte ich ihn praktisch sofort, sonst wäre ich wohl erschrocken. Es war Demjan, Djomuschka, der zu der Zeit, als diese Geschichte mit dem Ren passierte, als Koch in der damaligen Brigade arbeitete. Er hatte mir gefallen. Er war ein auffällig fleißiger, guter Kerl und dafür bekannt, dass er dem Alkohol aus dem Weg zu gehen versuchte. Ganz darauf zu verzichten gelang ihm auf Kolgujew nicht – aber er konnte sich räumlich so weit wie möglich davon entfernen. Er meldete sich zu den schwersten Arbeiten: Holzvorrat von der Koschka herbeischaffen, die Baloks anderswohin transportieren, die zurückgelassene Technik durchsehen. Die andern nahmen auch in die Tundra Wodka mit, und wenn sie ihm davon anboten, lehnte er nicht ab, aber Demjan setzte darauf – mit Recht –, dass er, je weiter man ihn rausschickte und je härtere Arbeiten er übernahm, umso weniger trinken würde. Jetzt kümmerte er sich um die Rene, was ihm anscheinend gefiel: Er hatte eine Handvoll Bretter, Nägel und etwas Ruberoid per Schlitten aufs Plateau gebracht, um sich fürs Erste ein Zelt zu bauen, später, wenn er das Material zusammenhatte, wollte er sich wie alle einen Balok zimmern, um nach Möglichkeit dauerhaft abseits des Dorfes zu leben.
    Von Demjan erfuhren wir, warum das Lager so verlassen dalag: Der Vortag war der »Tag des Rentierhirten« gewesen. Weshalb ein Teil der Männer sich dermaßen wild und unbändig dem Geist des Spiritus hingegeben hatte, dass die einen am Morgen ins Dorf aufgebrochen waren, während die andern halb tot in ihren Baloks lagen, in einem Zustand, in dem man nicht nur niemanden sehen will, sondern das Sehen, ja überhaupt ein Auge aufzutun, grauenvoll ist und im eigenen Innern alles nordwindartig heult vor Verzweiflung und Leiden.
    »Aber ich hab mich für die Wache einteilen lassen«, verkündete Demjan nicht ohne Stolz unseren Trekkingführern, damit die würdigen könnten, wie clever er diesmal einem Besäufnis aus dem Weg gegangen war. »Bloß die Mücken. Die Tiere sind in alle Richtungen auf und davon, wissen nicht, wo sich verstecken. Hab erst nen Ast abgebrochen als Wedel, taugt aber nichts. Hab mir dann das Gesicht mit Salzwasser eingerieben, jetzt stechen sie weniger, mögen sie nicht …«
    Demjan musterte mich immer wieder, erkannte mich aber beim besten Willen nicht. Vielleicht lenkten ihn die Fundstücke ab, die an Aliks Rucksack befestigt waren.
    »Und ihr seid wo langgelaufen?«
    »An der Westküste.« Auch Alik verbarg seinen Stolz nicht, während er seine Trophäen vorführte. Besonders beeindruckte Demjan die Perlonschnur. Er hielt sie länger in der Hand, dann brummte er gedehnt:
    »Kräftig. Solide. Müsst ja auch mal …«
    »Bei euch ist alles ›mal‹.« Alik lachte höhnisch auf. »Und nächstes Jahr dann wieder ›mal‹.«
    »Ich werd mit Wanka fahrn.« Djomuschka nickte entschlossen. »Wanka fährt überall hin … Hast du gesehen, was der für Ballons gefunden hat!?«
    »Nö …« Diesmal war offenbar Alik angespitzt.
    »Wie der von dir, bloß zwei. Und größer …« Aber da besann er sich plötzlich. »Ach was solls … Gebt mir mal nen Schluck Tee …«
    Demjan schleifte eine Kiste aus seinem Zelt zum Feuer und holte, was er an Essbarem besaß: Brot und Powidlo. Brot hatten wir schon drei Tage keins mehr gegessen, und es kam mir wie ein erlesener Leckerbissen vor. Aber die Powidlo erst – eine gewöhnliche Apfelpowidlo, schmiermittelfarben … Nein, ich hätte nie gedacht, dass ich die essen und einfach

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