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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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werden wir Zeugen eines Dramas ganz anderer Ordnung: des Triumphierens der Freiheit.
    Ich habe gesehen, wie das Ren den Menschen besiegte. Eines – von anderthalbtausend im Gatter zusammengetriebenen – ging direkt auf
das Wesen
los, auf die von ihm aus Eisengattern und unerträglichen Gerüchen nach verschwitzten Körpern, Tabak, Benzin, Farbe und Rentierblut geschaffene Angstwand – und zerschlug sie mit einem blindwütigen, erbarmungslosen Hieb.
    Über die Freiheit ist in den letzten zweihundert Jahren so Manches geredet und geschrieben worden. Quer durch die Welt ragen politische Freiheitsmodelle auf, angsteinflößende metallische Konstruktionen, die bisweilen an verrostete Eisenkäfige erinnern.
    Nach dem Zwischenfall mit dem Ren denke ich, dass Freiheit im Kern eines bedeutet: Sieg über die Angst.
    Das ist meine persönliche, aber tiefe Überzeugung.
    Mit dem Ausgang des Sommers endet das freie Umherziehen der Rene in der Tundra. Der Mensch treibt sie zusammen, pfercht sie im Korral ein, wo er sie zählt, impft und die Eier der Bremsen tötet, die im Larvenstadium sich Gänge durch das Fell fressen würden – eine Gewinneinbuße für den Menschen und eine Plage für das Tier. Aber die Rene vertrauen dem Menschen nicht, begreifen den altruistischen Hintergrund der Prozedur nicht. Deshalb ist es derart schwierig, eine an den freien Raum der Tundra gewöhnte Herde ins Fanggatter zu treiben. Es bedarf hierfür einer dem Städter unvorstellbaren Beharrlichkeit, physischer Ausdauer und ursprünglicher List. Die Arbeit kann einen halben, einen ganzen Tag dauern. Manchmal, wenn man Pech hat und die Tiere verschreckt wurden, muss das Gatter (und das sind Hunderte Meter dicker feuchter Hürden und mindestens eine Tonne Holzpflöcke) einige Kilometer weitertransportiert und erneut aufgestellt werden. Das Ren geht kein zweites Mal in dieselbe Falle.
    Ein Morgen. Wohl zum ersten Mal bedeckt Raureif den Boden. Für einen Moment bricht die Sonne durch, und der ganze Tundraraum funkelt auf. Herrlich, der Raureif auf den winzig-violetten Glockenblümchen. Bald wird es Herbst sein.
    Wir warten. Die Zeit existiert nicht, nur ein einziger unendlich zerdehnter Augenblick: der ins Ohr pfeifende Wind, der trübe dahinfließende Himmel, die fahle, bisweilen zwischen auseinandergespülten Wolken hervorkommende Sonne. Beendet wird diese sich in die Länge ziehende Pause von einem Rengespann, das auf einem flachen Hügelrücken auftaucht: Treiber auf Schlitten. Die Herde wird gleich dasein.
    Die Tiere sind unruhig. Auf einer Hügelkuppe überlegen sie kurz, ob sie eine scharfe Wendung zur Seite machen und über den Kamm gehen sollen, aber dort zeichnet sich die Silhouette eines anderen Schlittenlenkers ab. Und so machen sie, was wir von ihnen erwarten: steigen in das Tal eines Tundraflüsschens hinab, wodurch sie sich, unmerklich, in den Trichter einer riesigen, auf ihrem Abwärtsweg aufgestellten Reuse hineinbewegen. Hierbei behelligt sie niemand: Das Ren muss von allein in seine Unfreiheit gehen.
    Natürlich wittern die Tiere die Nähe des Menschen, das Feuer, das Hinterhältige und Gefährliche des Terrains, auf das sie geraten sind. Sie bewegen sich langsam weiter, vorsichtig. Aber die Silhouetten der Gespanne auf den Hügeln hinter ihnen erschrecken sie, warum auch immer, mehr als der Geruch des irgendwo seitlich glimmenden Feuers. Es kommt (für das Auge sichtbar) der Moment, in dem die Herde sich entschließt, über eine unklare Gefahr hinwegzugehen, um einer klaren auszuweichen. Auf keimende Hoffnung treibt die Tiere vorwärts, sie beschleunigen kaum merklich ihren Schritt – und gehen in die Falle.
    Und wenn bis dahin alles mit unglaublicher Langsamkeit vor sich ging – genauso langsam kriecht nur die Kälte des uralten Torfs die Beine hinauf bis in die Wirbelsäule –, so schlägt, kaum haben die Rene eine unsichtbare Linie überschritten, hinter der es kein Zurück mehr gibt, alles um. Alles beschleunigt sich bis zu einem unglaublich entfesselten, rasenden Rennen der in Panik geratenen Tiere. Im kniehohen grauen Gebüsch der kleinen Tundraweiden taucht hinter der Herde plötzlich eine Horde auf: Mit kälteheiseren Stimmen stößt sie gellende Schreie, Schreie des Wesens, aus, feuert die ersten Ladungen Angst in die Tiere hinein. Und diese jagen los wie von einem Peitschenhieb getroffen und merken erst jetzt, dass sie eingekreist sind, dass da Hürden sind, und rundherum nichts als heiser Schreiende. Die mit den Armen

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