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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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fuchteln, rennen, sie antreiben und brüllen, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Bündel aus Angst, rauschen die Rene mit Getöse zwischen zwei Reihen immer enger werdender, böser Hürden durch das Flüsschen, jagen eine Anhöhe hinauf und landen in der bis dahin nicht sichtbaren, rechtzeitig aufgestellten Falle des Korrals. Hier sind die Pflöcke tief eingerammt und die Hürden aus Eisen. Trotzdem, der nach hinten noch offene Korral ist bestimmt an die fünfzig Meter breit, und die Rene müssten bloß wissen, dass, machten sie kehrt, keiner sie halten kann, denn eine Herde in Bewegung gleicht der unerbittlichen schweren, tödlichen Kraft einer Lawine …
    Aber die Angst hat sie bereits besiegt. Die Menschen wissen das und schließen das Gatter ohne Hast. Von nun an gibt es für die Rene nur einen Weg zurück in die Freiheit, nämlich durch einen engen schneckengehäuseartigen Gang und eine Schleuse aus Toren und die unvermeidliche Unterwerfung unter den Willen des Wesens.
    Eine im Korral zusammengetriebene Herde erweckt Mitleid: die Rene begreifen nicht, was ihnen da widerfahren ist, warum bloß hat sich ihr Bewegungskreis geschlossen, warum bringt zu rennen ihnen keine Freiheit.
    Stunden über Stunden rennen sie, vielleicht in der Hoffnung, die
Geschwindigkeit
werde die abgeschlossene Welt wieder öffnen. Binnen kurzem haben sie den Boden bis zur nackten Erde, zum steinigen Grund aufgerissen. Sie prallen gegeneinander, rempeln sich mit Geweih und Flanken, stürzen auch, dann setzen andere über sie hinweg, deren Hufe gegen ihre Rippen donnern. Zerschundene Schnauzen, blutige, vom jungen Geweih abgerissene Bastfetzen sind zu sehen, blutüberströmte Rücken, rennende Läufe und Geweihe, Geweihe, Geweihe …
    Diese Bewegung zu stoppen ist unmöglich. Es kommt vor, dass erschöpfte Tiere sich ein wenig absondern und eine Zeitlang torkelnd und mit heraushängender Zunge umherschleichen, aber fünf Minuten später haben sie sich erneut der kreisenden Herde angeschlossen. Denn das Leben des Rens ist Bewegung. Die Tiere rennen Tag und Nacht, immer in derselben Richtung – der des Sonnenlaufs. Wollte man versuchen, sie zu stoppen oder ihre Laufrichtung umzukehren, sie würden ausrasten und den Korral zerlegen. Aber diese Chance, durch den Wahnsinn zur Freiheit zu gelangen, gibt es nur für den Menschen. Wir – Mensch und Ren – haben eine gar zu verschiedene Weltwahrnehmung. Weshalb zum Beispiel der Mensch glaubt, er würde die Herde zählen und impfen, die Rene aber sind überzeugt, es erwarte sie der Tod, die sinnlose Mitleidlosigkeit des Wesens.
    Ein prächtiges kaffeebraunes Tier mit weißer Brust. Es kam mir beim Einschlafen wieder in den Sinn. Ich weiß nicht, wodurch es meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Wir hatten den ganzen Tag viel zu sehr geschuftet und gerackert, um die Herde mit Ruhe zu betrachten. Das tun die alten Männer: Mit erfahrenem Auge erkennen sie das Fehlerhafte in der Natur (schwache und hinkende Tiere) und wählen die künftigen Fahrtiere aus. Alle anderen arbeiten pausen- und atemlos bis zur Dunkelheit. Denn auf seine Weise ist der Mensch barmherzig, er will, dass die Prozedur so schnell wie möglich über die Bühne geht, damit die Rene sich nicht gänzlich auslaugen. Keine Verschnauf-, keine Rauchpause. Sieben, acht Mann gehen, nachdem sie in den Korral geschlüpft sind, auf die Herde zu und isolieren etwa anderthalb Dutzend Tiere durch Rufen und Armgefuchtel, die sie dann mit weiterem Gebrüll und Gerudere über den inneren Korridor in die sogenannte Arbeitskammer scheuchen, einen winzigen Pferch, aus dem die Rene schließlich einzeln in die Impf kammer getrieben werden, und von dort aus schließlich, mit blauer Farbe markiert, wieder in die Freiheit.
    Eine derartige Beschreibung der Arbeit im Korral klingt vollkommen harmlos, aber für die Rene sind alle Vorgänge dort durchdrungen von blankem Entsetzen und Leid, und befänden sich im Gatter nicht Rene, sondern Menschen, so würde es wohl am ehesten an ein Konzentrationslager und den Terror der Abläufe dort erinnern.
    Am schlimmsten geht es im Arbeitspferch zu: Die von der Herde isolierten Rene begreifen nicht, wo sie sind und was mit ihnen geschieht, sie gebärden sich wie Fische auf dem Trockenen und suchen rasend nach einem Ausgang aus dem geschlossenen Raum. Sie reißen sich die Schnauzen am Gatter auf, verletzen ihr blutiges Geweih immer mehr und trampeln in Panik aufeinander herum. Einmal, als ich mich vor dem

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