Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
mitnehmen zu sich, bringen sie dir nur Gutes bei.«
Die Siirten … Wir hatten schon ein paarmal kurz über sie gesprochen, aber bislang hatte ich nur eins begriffen: dass es sich um kleine, sagenumwobene Menschen handelte, die als Träger des richtigen Geistes galten …
»Was ist mit den Siirten, leben sie hier?«, fragte ich vorsichtig.
»Nicht mehr, nein«, sagte Alik traurig. »Sie sind fortgegangen in die Legende. Vielleicht gibts noch irgendwo einen oder zwei …«
IV
DAS BUCH DER SCHICKSALE
Wir kehren zurück
Nun denn … Zum letzten Mal schultern wir den Rucksack und wandern los. Aber irgendwie keine Freude auf den Gesichtern. Eine seltsame Gleichgültigkeit hatte uns am Ende ergriffen: die Expeditionsenergie war verflogen. Die Zukunftsversprechen hatten sich erfüllt, es ließ sich ihnen jetzt nichts mehr hinzufügen. Und die Gemeinschaft, die wir angesichts des Unbekannten gebildet hatten, würde in Kürze wieder auseinanderfallen …
Alik lief einigermaßen verloren voraus. Er kehrte dorthin zurück, wo er alles, aber auch alles, bis ins Detail kannte. Armer Tundraprinz in teerverspritzter Wattejacke, Hüter der Erinnerungsschätze der Insel in morastgesprenkelten Stiefeln …
Vielleicht hätte er nichts dagegen, Schätze von größerer Materialität zu besitzen als den Erinnerungsschatz, aber auf Kolgujew zeichnen sich die Träume dadurch aus, dass sie taubes Gestein bleiben.
Insgeheim sieht sich Alik nicht als Bataillonskommandeur, sondern als Ölscheich – schließlich stehen Bohrtürme auf dem Land seiner Ahnen. Und vielleicht entwickeln sich die Dinge auf Kolgujew ja so wie in der arabischen Wüste, dann könnte er für die Förderrechte auf dem Land seines Klans genügend Geld bekommen, um …
Nirgendwo träumt man so sehr von wunderbarem, selbstverständlich plötzlichem Reichtum wie dort, wo die Armut herrscht.
»Ich würde mir eine Isba bauen«, sagt Alik. »Dort an der Bugrjanka, in dem runden Tal. Aus echten Holzstämmen. Und ein Schneemobil, einen Buran, kaufen, und den allergefährlichsten Hund, den es gibt …«
Nun ja, ein Haus, das ist schon was. Zumindest die Möglichkeit, in dieses Haus eine Frau zu holen und Kinder zu zeugen, statt in zwei nach Kohle stinkenden Räumen einer Barackenhälfte zu hausen, wo in jeder Ecke noch einer atmet, obendrein ein Verwandter, den vielleicht wie dich der Gedanke an die Fortsetzung der Sippe umtreibt oder das Gewissen plagt, schon zu lange auf der Welt zu sein …
»Und wenn du
sehr
viel Geld hättest? Wie gesagt,
sehr
viel …« Ich betonte das »sehr«, um ihm klar zu machen, dass jeder Wunsch erlaubt sei, denn ich wollte wissen, worin er seine wahre Chance sähe, sein größtes, alle Vorstellungen übersteigendes Glück.
»Dann würd ich wahrscheinlich irgendwo auf den Kanaren leben.« Angesichts dieser überraschenden Wendung lachte er. »Hierher würd ich nur im Frühjahr zur Gänsejagd kommen … Außerdem mag ich Wein. Rotwein. Mit Würstchen …«
Nein, nur in der Tundra ist Alik ein Prinz, wenn er die Küste abschreitet, diese letzte Bastion am Rande des Nordpolarmeers, diese unter der Sonne aufglitzernde Bastion, angefüllt mit einer bedrohlichen Poesie – wie ja jeder zertrümmerte Vorposten …
Wir wurden in ein und dieselbe Zeit zu unterschiedlichen Schicksalen geboren – der Schütze und der Fliehende. Ich bin ein Weißgesicht. Er ist Nenze. Und wir werden bis zum Schluss einander nie verstehen, genau so, wie die Weißen, erstaunt über die Vorliebe der Indianer für drittklassige Manufakturwaren, diese nicht verstanden und nicht sahen – nicht sehen wollten –, wie tief und durchgeistigt ihr Weltwissen ist. Ich habe gesehen, wie Alik ein Vogelküken fängt, ein Schneehuhn- oder Strandläuferküken: Wie ein Junge galoppiert er ihm hinterher … setzt das Tierchen vorsichtig auf seine flache Hand, zeigt es uns, damit wir es fotografieren können.
Seine Gesten waren voller tiefer, ehrlicher Zärtlichkeit – dabei ist er Jäger!
Einmal kam es zwischen ihm und Tolik zum Streit. Tolik schlug Petka vor, ein Vogelweibchen zu schießen, damit der es besser betrachten könne.
»Nicht doch, lass sie die Jungen großziehen«, hielt Alik seinen Bruder zurück.
»Aber die fliegen doch schon …«
»Trotzdem, sie wissen noch nichts …«
Ich erfuhr von Alik, dass Gänseküken ohne Eltern stark verlausen, schwächeln und in der Entwicklung zurückbleiben, weshalb sie sich im Herbst zu gesonderten, ungeschickt formierten Zügen
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