Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
jungfräulichen Raum, der uns zehn Tage lang aufgenommen hatte. Zehn Tage lang hatten wir uns dermaßen viel Raum einverleibt, dass ich mich frage, warum wir nicht geplatzt sind. Wir kannten kein Maß: schlangen und stopften uns voll, wie man atmet. Es reichte auf lange, für einige Jahre. Und als ich nach dreien noch einmal nach Kolgujew kam, da zeigte sich, dass die Grundformen dieses Raumes, seine, wenn man so sagen kann, matrikalen Formen, sich dermaßen fest in mir abgedrückt hatten, dass ich auf vieles einfach nicht mehr meine Aufmerksamkeit zu richten brauchte – wodurch ich mich Einzelheiten zuwenden konnte. So nahm ich »die Weidenbüschchen nach dem Schnee« auf, »die Linse« (einen kleinen See, der kurz vor dem Sommer mit intakter Eisfläche wie eine optische Linse in der Tundra lag), »das Sumpferz« (da taute es schon; in meiner Kindheit hatte man uns im Geschichtsunterricht erzählt, dass unsere Vorfahren Eisen gewannen, indem sie ein bestimmtes Raseneisenerz erhitzten, das ich immer finden wollte – und nun sah ich rotbraune pure Rostablagerungen, Bodenmulden, die wie Kessel mit diesem Rost angefüllt waren, Pflanzenstängel, auf denen sich der Rost abgesetzt und die Fließe zwischen den Moorlöchern in braune eisenhaltige Dschungel verwandelt hatte, sah Eisenschlieren und von den Moorgasen herauf auf den Moorgrund getriebene feine Rostsuspensionen: sah Tonnen und Abertonnen von Rost), »den Fisch auf dem Schnee« (die silbrigen Schuppen der Weißfische schimmern weshalb auch immer besonders auf dem letzten körnigen Schnee), »den Tropfen« (mit einer beeindruckenden Platte aus Altschnee, an deren unterer Abbruchkante Tropfen entlangperlten) und »den fernen Horizont«: die Insel vom Gipfel der Ostryje Sopki aus. Diese Aufnahme zeigt einen Gewehrkolben sowie ein graues Stück Holz, Teil einer Dreibeinbake, über der das Gewehr hängt, und unten das grenzenlose bläuliche Gefäß des weiten Raumes mit Feldern von Schnee. Von den Ostryje Sopki auf Kolgujew zu blicken ist ein Genuss: Die Sicht reicht weit, bestimmt vierzig Kilometer, selbst die Strömung des Ob im Meer ist zu sehen. Nur im Norden und Westen sieht man die See nicht – da breitet sich, so weit das Auge reicht, allein die Insel aus, und es kommt einem vor, als bögen sich ihre Ränder wirklich leicht nach oben, und du sitzt zwar auf einem Berggipfel, aber der Berg, der sitzt gewissermaßen in der Mitte eines Tellerchens …
Doch all das ist noch eine Weile hin. Im Moment kehren wir zurück. Schon ist der Dieselmotor zu hören, Kinderstimmen. Und die paar Hundert Meter, die wir noch vor uns haben, sind vielleicht einfach nur dazu da, dass wir uns an das gewöhnen können, was gleich vor sich gehen wird. Dass gleich die Menschenwelt uns wieder umschließen wird und wir – für immer oder zumindest auf lange – den Raum verlassen werden.
Er schrumpft zusehends um uns her, weicht mit dem Näherkommen des Dorfes immer weiter zurück. Schon umgeben uns Häuser, Hunde, Menschen; im Kopf – ungelöste Fragen, Telegramme für zu Hause, das allmähliche und immer vollständigere Eintauchen in die Probleme, die auf uns warten.
Endlich im Hotel, entledigen wir uns mit unvergleichlicher Erleichterung und einem Gefühl des Sieges unserer Rucksäcke, setzen uns auf die Vortreppe, sehen uns um. Alles ist wie vorher. Das abfließende Meer, die Boote im glänzenden Grund der Bucht, das Konglomerat von Gebäuden, Dorf geheißen, mit dem ihm eigentümlichen, uns nicht begreiflicher gewordenen Leben – als würden die Leute etwas vor uns verbergen. Aber vielleicht tun sie das ja? Ein unüberwindbares, tiefes Unglück … Ja, genau das ist es, was in jeder Geste, jedem Blick des Inselbewohners verborgen liegt, in seinem Stehen im Wind und seinem langen Schauen aufs Meer, hinter den Horizont …
Seltsam: Alles ist wie vorher, aber zugleich ist nichts unverändert geblieben. Wahrscheinlich, weil wir
dort
waren.
Dort – in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit.
Denn: Wer sagt, wo wir wirklich waren? Und wie viel Zeit wir dort verbracht haben?
Ich erinnere mich, dass ich vor der Abreise in Moskau noch in der
Ogonjok
-Redaktion vorbeischaute. Als ich die Tür zu dem Büro aufmachte, wo ich, wie ich glaubte, schon ungeduldig erwartet wurde, war es leer, das heißt, von meinen Freunden war niemand da, aber am Tisch vor dem Fenster, durch das gerade die Nachmittagssonne hereinbrannte und die Blumen auf der Fensterbank auszutrocknen drohte, saß ein
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