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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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zusammenfinden, die der erfahrene Jäger sofort von den wohlgeordneten Verbänden der anderen Vögel unterscheiden kann. Anscheinend
lehrt
die Mutter die Jungen, Sandbäder gegen Parasiten zu nehmen, von allein lernen sie das nicht, vieles andere ebenso wenig …
    Die Nacktheit des Lebensurgrunds, die vorsätzliche Rohheit in den gegeneinandergestellten Begriffen Leben/Tod, Kälte/Wärme, Bewegung/Bewegungslosigkeit – die sich zudem noch dem großartigen Pulsieren von Licht und Dunkelheit, von nicht endender Nacht und Polartag unterwerfen, sich wechselseitig verändern und ineinanderfließen im Kreislauf von Liebe-Geburt-Tod: All das hat aus Alik zweifellos auch einen Magier gemacht. All das, Vogelrufe oder Insektenstiche, sind Zeugnisse für ihn, Stimmen, die warnen und auf Antwort warten – und er spricht mit ihnen, redet unablässig mit den Vögeln, Gräsern, Pilzen, allem ringsumher, denn es ist lebendig, und das Lebendige mag es, wenn mit ihm gesprochen wird.
    Aber jetzt schreitet er schweigend aus, mit finster gesenktem Kopf. Unsere Wanderung war auch eine Chance für ihn. Und nun geht es an den Zieleinlauf.
    Wir haben den Hügelhang auf der anderen Bachseite erklommen und sehen, am Rande einer moorigen Ebene, die Häuser von Bugrino. Welch unerträgliche Schwermut dieses Dorf jetzt in mir wachruft! Mit jedem Schritt zu ihm hin gehen wir weiter aus der herrlichen Welt der Tundra hinaus, die uns gewiss schon morgen in der Erinnerung märchenhaft erscheinen wird …
    Wir verlassen die Vogelwelt wie einen Theatersaal nach dem Ende einer dramenreichen Handlung. Eine Handlung, die den ganzen Lebenszyklus darstellt, die Geburt des Lebens aus dem Ei und den Tod noch im Lebenskeim (es gibt unzählige aufgepickte Eier). Zufällige Botschaften (herrliche kleine Federn) und gigantische Keilschrifttafeln: mit Tausenden von Zeichen, Tausenden von Spuren bedeckte feuchtlehmige Lajdas. Der Tod unschuldiger Küken, die sich gerade erst ans Licht der Welt gepickt haben, ihre Verwandlung in brennende Kotklumpen, mit denen die Silbermöwe den Menschen zu bespritzen versucht, sobald er ihrem Nest näherkommt; und das Geradlinig-Brutale des Lebens: die raubgierigen Schreie der Falkenjungen, ihre unersättlich und hilflos aufgerissenen Schnäbel, ihre halb nackten, hie und da von weißem Flaum bedeckten Körperchen, ihre hysterische, greisenhafte Anspruchshaltung. Die Raubmöwe, die ihre Beute schlägt: ein schwarzer Schatten – Sense des Schnitters Tod –, und mit einem Pfiff schnellt sie über die Tundra. Zugleich die Lebenssymphonie – Dudkas, Rohrpfeifen aller Art, Stimmen. Adieu, adieu, ihr in der Mehrzahl Unbekannten! Eure Musik war herrlich. So herrlich, dass es nach Kolgujew im Grunde eine Zeitlang schwierig wird, Musik zu hören: Sie erscheint einem süßlich, monoton, unlebendig.
    Das Anrührende als eine besondere, nur dem Menschen zugängliche Eigenschaft des Lebendigen. Insbesondere das Anrührende von Vogelküken; die Welt aus ihrer Sicht: die Grenzenlosigkeit der Wasser, die funkelnden Reiftropfen im undurchdringlichen Dickicht, das Wogen der dichten Grün-Vorhänge ringsum, das Halbdunkel der Weiden, der Ruf der Mutter, das Beruhigende ihrer Berührung, die Allgegenwart von Nahrung, die Allgegenwart von Gefahr …
    Einmal stießen wir in der Tundra auf das Küken einer Falkenraubmöwe.
    »Und, erschlägst dus?«, fragte mich Alik, weil ich am Vortag geschworen hatte, nicht eine Raubmöwe mehr zu schonen, die mir in den Weg käme. Wir hatten gerade eine Gans von ihrem Nest aufgeschreckt, sie war zum Fluss gerannt und rief ihre Brut, die sich in den Bülten versteckte. Die Küken liefen los und wurden auf der Stelle Messerschmitt-artig von einer Raubmöwe geschlagen und heruntergewürgt.
    Das Junge war ein schwarzes, flaumiges, unglaublich anrührendes Geschöpf.
    Ich bin sicher, Alik wusste, als er mich fragte, was mein Gerede wert war. Denn dieses konkrete Raubmöwenjunge, das ich entweder hätte zertreten oder ihm den Hals umdrehen müssen, hatte schwarze, lebendige Augen, eine hilflos-kindliche Art sich schutzsuchend umzublicken und besaß nicht zuletzt jene Kinderrundlich- und -flaumigkeit, die es vor dem Menschen schützte.
    Alik wusste, dass über dieses Anrührende eines jungen Geschöpfs hinwegzugehen dem Menschen nicht leichtfällt. Womit er Recht hatte.
    Das Dorf: Allmählich zeichnete sich das Verwaltungsgebäude ab, dann die Telefonmaste, die äußerste Häuserreihe …
    Wir verließen den

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