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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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ist, wenn alle Laute verstummen. Die Vögel fliegen ja fort: die Schwäne, Strandläufer, Kampfläufer, alle, und wenn der Wind sich legt, hebt ein absolutes Schweigen an.
    Ich lausche ihm und mir wird klar: Was immer er sagt, er liebt seine Insel über alles und wird sie nie, für nichts auf der Welt, je verlassen.
    Ich stelle mir vor, wie er unter seinem warmen Fell liegt: Der Ofen knistert, gelbe Flammenreflexe gleiten über die Wände, der Blick folgt ihnen … Gedanken. Nein, eher keine Gedanken.
Stille
– mehr nicht. Stille. Solange der Ofen knistert, kann man sich eine Papirossa anstecken, den köstlichen Rauch einsaugen, sich einen köstlichen heißen Tee machen … Falls es ein Radio gibt, ein Weilchen Radio hören, das Rauschen der Welt aufschnappen, Stimmen, ein paar Takte Musik, Ereignisse … Aber mit dir haben diese Ereignisse nichts zu tun, und da das Holz herunterbrennt, kappst du die Verbindung, mummelst dich wärmer ein, und die Stille umschließt dich, und ringsumher hat sich bereits die Finsternis der Polarnacht herabgesenkt, und dein Balok flackert zwischen den Sternen wie ein Raumschiff …
    Jetzt sind hinter der Hauswand noch die Windböen zu hören. Der Wind hat die Wolken nach Süden getrieben, der Himmel hat sich aufgeklart.
    Noch ein gelber Sonnenuntergang über der Bugrjanka.
    Spät am Abend gehen Pjotr und ich zu einer sich am rechten Flussufer entlangziehenden Sandbank, um Rosenwurz auszugraben. Im Halbmeterabstand hocken die Büschchen der Heilpflanze über die ganze Lajda verteilt im Sand, wo nach dem Wind noch kein Lebewesen seine Spur hinterlassen hat. Hier kann man sich noch der Illusion überlassen, dass die Welt weit entfernt ist und uns nicht belästigen wird. Alles ist in geologischer Ruhe erstarrt: die das Ufer bildenden Lehmschichten, regelmäßig wie Jahresringe, die erstarrten, in ein fremdartiges schräges Licht getauchten Sandwellen … Wir springen auf die Sandbank und beginnen mit unseren Füßen ein Körnergestöber zu erzeugen, das in den Strahlen der versinkenden Sonne funkelt wie Schnee. Leere ringsumher und ein nicht wiederzugebendes Spiel aus Licht und Farbe. Wenn ich später einmal gefragt werden sollte, was denn dort auf Kolgujew besonders war, dann werde ich, so blöd das klingt, sagen: So zwischen neun und zehn abends im Bugrjanka-Tal, da pfeift ein einsamer Strandläufer. Und das Licht, das der Fluss mit sich trägt und der Himmel ausstrahlt, bewirkt, dass ein Gefühl von Freiheit und Glück dich erfasst. Und in der Ferne ragen Berge auf – sehr, sehr blaue. Und der Sand ist rosafarben und schneeleicht …
    Ich versuchte, nicht gar so viele Rosenwurzstauden auszugraben – die »goldene Wurzel«, wie wir Russen sie nennen, ist doch ein ziemlich seltsames Gewächs, das zudem einem Menschen ähnelt, mit zwei Beinen, Kopf und Geschlechtsteilen. Einmal hat so ein Wurzelding, das meine Gier spürte, mir mein Messer verbogen. Deshalb muss man mit der goldenen Wurzel möglichst vorsichtig umgehen – du weißt nie, was sie im Gegenzug verlangt.
    Und trotzdem haben wir uns, befürchte ich, nicht ausreichend gezügelt. Im Hohen Norden wird Rosenwurz mit Spiritus angesetzt, dem die Pflanze eine herrliche gelbe Farbe, einen herben Geschmack und einen Duft nach Heckenrosen verleiht. Verdünnt trinkt sich dieser Schnaps leicht und angenehm, als starke Tinktur kann er einen vor zahlreichen Krankheiten bewahren. Und so buddelten Petja und ich mit dem Messer dermaßen viele Wurzeln aus, als hätten wir nur eins im Sinn: zu trinken und uns zu kurieren. Danach spülten wir die Wurzeln noch im kalten Flusswasser, und durch unsere Finger flossen, sich verflechtend, die Strahlen des vom Wasser reflektierten goldenen und blauen Himmelslichts. Überhauf im Sack erinnerten die sauberen, glänzenden Wurzeln noch mehr an Lebewesen.
    Als wir schlafen gingen, fiel Petka auf, dass er seine Feldtasche mit Tagebuch und Herbarium auf der Lajda liegen gelassen hatte. Es war schon Nacht, und vor dem Morgen würde wohl kaum jemand am Ufer auftauchen, aber er wollte doch rasch los, seine Tasche holen. Alle lagen schon im Schlafsack, und keiner wollte wieder hervorkriechen und ihn begleiten.
    »Brauchst keine Angst haben«, ermunterte Alik ihn, »hier ist jetzt keine Seele mehr, außer den Vögeln.«
    »Und die Siirten?«, schob Tolik sofort nach, der gern alle möglichen gruseligen und unbegreiflichen Geschichten erzählte.
    »Vor denen brauchst du auch keine Angst zu haben. Wenn sie dich

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