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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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nicht mehr auf hören kann, dass ich mir noch ein Löffelchen nehme, und noch eins, und noch eins, und dabei weiß, das gehört sich nicht, weil der Mensch da, der gibt das Letzte, was er hat … Aber immerhin haben wir noch eine dicke Suppe aus Büchsenfleisch und chinesischen Nudeln gekocht, bevor das Feuer ausging, eine Art Dankeschön an Demjan – in so einer Nacht kam das Süppchen ganz gelegen.
    Aus dem Magen strömte die Wärme, die ich mir einverleibt hatte, allmählich ins Blut und breitete sich aus, ich versank, trotz des feuchten Windes, in einen seligen, geradezu betäubten Zustand, der einfach gewöhnliche Sättigung war, erwischte mich dabei, dass ich dem Gespräch der anderen nicht mehr recht lauschte. Ich bewegte mich leicht und sogar gern, beobachtete mit Interesse und ohne Pessimismus meine Umgebung. Ich dachte nichts – mochte nichts denken –, betrachtete aber mit Wohlbehagen Alik, Tolik, Petka und Demjan, als ob ich sie zum ersten Mal sähe. Demjans Gesicht hat sich in den beiden Jahren mit einer Rußschicht überzogen, und in seiner offenherzigen Art zu reden ist etwas Primatenhaftes aufgetaucht, mit nicht wiederzugebender Schimpansengrazie dreht er den Kopf hin und her, fährt sich mit der flachen Hand über den Mund, kratzt sich am Kinn und schiebt die Unterlippe vor …
    Vielleicht ist ja der teerschwarze Tee dran schuld, den er süffelt?
    Schon möglich.
    Der Tee hat seine Kehle erwärmt, die Suppe und eine Kippe haben das Ihre beigetragen, und jetzt ist seine Stimme zu hören, heiser sich stauend in der zu engen Kehle, ein bluesig-knurrendes Rollen. Zum wiederholten Mal verharrt sein Blick auf mir, aber diesmal wandert er nicht weiter, sondern strafft sich wie eine Saite.
    »Jetzt erinner ich mich … Du bist der Fotograf, der die Müllgrube gegraben hat!«
    Fotograf … Doch ja, so eine Rolle hatte es in meinem Leben gegeben.
    »Ist er, ist er«, bestätigt Alik.
    Und wir lachen, froh darüber, dass keiner den anderen vergessen hat.
    Demjans lockiges Haar war seit langem ungekämmt: er setzte seine gesteppte Bauarbeiterkappe auch zum Schlafen nicht ab, und zog wohl auch die Wattejacke nicht aus, eine unförmig große, lange, malizaähnliche Jacke. Seine Füße steckten in Filzstiefeln, an denen er mit Kordel kaputte Gummischuhe befestigt hatte.
    Ich warf auch einen Blick in sein Zelt: eine Schlafstelle mit Fell, noch eine Kiste, ein großer Blechwecker, ein Kochtopf. Sein ganzer Besitz.
    Er ist vierzig Jahre alt, dieser Mensch, den sein höllischer Tee, Tabak und Wind geschwärzt haben. Und dieses ofenlose Zelt ist sein Heim, das er sich selbst gebaut hat für ein ehrliches und arbeitsames Leben.
    Er ist kein Schmarotzer, er arbeitet hart. Er hat uns empfangen, allein, und uns würdig aufgenommen: hat alles mit uns geteilt, was er besaß.
    Er ist einsam.
    Er ist ein Mensch.
    Verdammte Menschheit!
    Den ganzen folgenden Tag über trieb uns ein Wind durch das Bugrjanka-Tal, der schmirgelnd und polierend feinen Sand über die jungfräulichen, bis zur Vollkommenheit gerundeten Sandbänke fegte. Gegen Abend erreichten wir Aliks Balok am Sobatschi-Bach. Um hineinzuschlüpfen musste ich mich bücken, wobei mein Blick zufällig auf eine Glasscherbe in der Tür fiel, die dort just in Augenhöhe angebracht war – anstelle eines Fensters. Ich gewahrte ein Gesicht. Mein Gesicht. Ich hatte immer so ein Gesicht haben wollen: das braungebrannte, wettergegerbte, ja wilde, doch begeisterungsgesättigte Gesicht eines Menschen, der viel erlebt hat, auf dem sich zudem verwegene Freude abzeichnet: Unsere Sache ist vollbracht! Wir haben den Erfolg in der Tasche!
    Hätten wir wegen der dörflich-zivilisatorischen Verlockungen – wegen Brot, Gebäck, Powidlo, sauber bezogenen Betten oder der Sonntagsdisco im Klub – noch am selben Abend in Bugrino sein wollen, es wäre ein Leichtes gewesen. Aber irgendwie wollte keiner, dass die Reise zu Ende ging. Wir wollten sie fortsetzen,
uns fortsetzen
in ihr. So blieben wir noch einen vollen Tag bei Alik.
    Vom Sobatschi-Bach nach Bugrino ist es nicht weit, sechs Kilometer Luftlinie, aber das Dorf ist von dort aus nicht zu sehen, dafür muss man erst den Terrassenhang des Hügels auf der anderen Seite hinaufsteigen. Nein, Alik hat seinen Balok nicht zufällig so gebaut, dass man sich darin mühelos vorstellen kann, im offenen Universum der Tundra zu sein …
    Auf seinem Lager ausgestreckt beginnt er traumverloren davon zu erzählen, wie
seltsam
es hier im Spätherbst

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