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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Nikita an Menschen die Härte geschätzt.
    Am meisten wollte er dem alten Udossi gleichsein. Der war berühmt als Promyschlennik, hat auf Kolgujew, Nowaja Semlja, Wajgatsch gejagt. »Udossi« heißt auf Nenzisch »der Armlose«. Auf Nowaja Semlja legen die Jäger aus Furcht vor Eisbären nachts im Zelt ihr Gewehr neben sich bereit. Deswegen hats schon viele Unglücke gegeben, wegen der unbedachten Bewegungen im Schlaf. Auch Udossi hat es erwischt: ein Schuss ist losgegangen, der ihm um ein Haar den Arm abgerissen hätte. Die Bleikugel zerfetzte den Knochen. Er war allein. Zerriss mit der gesunden Hand ein Leinenhemd und band den Arm fest ab, dann spannte er die Hunde an und machte sich auf ins Dorf – zwei Tage hat er gebraucht. Seitdem hielten die Leute Udossi mehr oder weniger für einen Schamanen, weil nämlich ein normaler Mensch so eine Verletzung nicht überlebt. Der andere Schamane wurde eifersüchtig, suchte ihn auf und drohte: »Ich häng dir eine Krankheit an, quäl dich zu Tode.« Udossi hat erwidert: »Sag mir den Tag. Wenn ich wirklich sterbe, dann glaub ich dir, aber so – Krankheiten gibts viele …« Da ist der andere auf der Stelle auf und davon. Udossi hat niemanden gefürchtet – deshalb ist er mit einer Hand auch stärker gewesen als andere mit zweien.
    Dann kam der Tag, da musste auch Nikita seine Tapferkeit erproben. Er musste sogar wie Udossi ausprobieren, wie stark er mit einer Hand ist. Das war in dem Jahr, wo er schwer krank war. Sein Arm ist gelähmt gewesen bis zur Schulter hinauf, und er wurde immer schwächer. Er musste unbedingt Fleisch essen, aber die Vorräte waren zu Ende. Er bat seine Frau, ein Ren zu schlachten. Die nimmt die Axt, um das Ren zu betäuben. Schlägt einmal zu, zweimal, dreimal … Aber das Tier steht da, ohne die Schläge zu registrieren. Auch sie war völlig entkräftet. Nikita stand auf, knüpfte eine Schlinge und erdrosselte das Tier mit der gesunden Hand. Er aß das Fleisch, wurde gesund. Du fragst: »Warum erzählst du das?« Nur zur Einstimmung. Aber wenn du wirklich wissen willst, wie sie waren, die Menschen der Heldenzeit – dann hör.
    Neue Zeiten schicken für gewöhnlich Ereignisse voraus. Im Jahr neunzehn warf der Sturm im Norden der Insel einen Leichter gegen die Steilküste, und im Wasser trieben jede Menge Leichen. Steckten in Pelzmänteln, alles Russen. Es gab nicht einen Überlebenden: die Lehmhänge sind dort besonders hoch und fallen senkrecht direkt ins unruhige Meer ab, da klettert keiner an Land.
    Dann kamen die Sumarokows nicht mit ihren Waren, um die gegerbten Felle und das frische Fleisch abzuholen – das war nun wirklich ganz unerklärlich. Etwas Schreckliches musste jenseits des Meeres geschehen sein. Auf jeden Fall! Denn eines Tages tauchten Norweger auf, lockten die Leute auf ihren Schoner, nahmen ihnen Fleisch und Felle weg, rasierten ihnen die Schädel kahl und brachten sie mit gefesselten Händen zurück an Land, ohne etwas bezahlt zu haben. Und in einem andern Jahr, da kam ein fremdes, von einem Dampfer ausgesetztes Boot bis in Ufernähe. Die Inselbewohner winkten mit einer auf eine Stange gestülpten Mütze, wie es sich gehörte: Herzlich willkommen, hieß das, wir grüßen euch, erwarten euch! Aber dieses in den hiesigen Gewässern jedem Seemann bekannte Zeichen schienen diese Leute nicht zu kennen, sie kamen nicht näher ran. Da geht Nikitas Großvater, der sehr gut Russisch konnte, hin zu ihnen, und sie rufen ihm entgegen: »Bei euch, sind da Weiße oder Rote?« Er weiß nicht, was antworten. »Weder die noch die.« – »Und wer seid ihr?« Sie hatten von nichts eine Ahnung. »Wir«, sagt er, »leben hier mit unseren Renen.«
    Da kamen sie an Land. Seltsame Leute, weder Nenzen noch Kaufleute. Hatten keine Waren dabei. Benahmen sich aber friedlich, sie ließen auf der Insel nur einen Anführer von sich zurück und einen andern, Ussow, der den Leuten Lesen und Schreiben beibrachte. Anfangs lebte Ussow in der Tundra, bei Timofej im Tschum. So hat Nikita ihn zu Gesicht bekommen: in Pelzmantel und Stiefeln, ein Gewehr mit Bajonett über der Schulter, einen Säbel am Gürtel. Ussow konnte sehr gut Nenzisch, aber anscheinend traute er den Leuten nicht: nachts nahm er das Bajonett und den Säbel mit in den Tschum. Bis jemand ihm erklärte, er soll sie draußen lassen. Einmal, da hat Timofej das Gewehr genommen und angelegt, aber nur mit dem Kopf geschüttelt: ein unpraktisches Ding vielleicht! Wie ein Chorej 46 .
    Ussow verbot

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