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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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ihnen, Rene zu schlachten. Damit es mehr würden. Frühjahrs sollten sie Zugvögel jagen und sommers Gänse, in der Mauser. Den jungen Männern brachte er Lesen und Schreiben bei. Nikita hat es nicht gelernt: zu langweilig. Dafür hat er Ussow gezeigt, wie man mit einer Fangschlinge Schneehühner fängt. Der arme Teufel: wär beinah vor Hunger gestorben. Ging nämlich mit seinem Kampfgewehr auf Schneehuhnjagd und hat nicht eins geschossen. War schon arg abgenutzt, sein Gewehr.
    Ussow unterrichtete auch in anderen Nomadenlagern. Die Herrin von einem Tschum, Olga, hat ihm übel mitgespielt, ließ ihn jedes Stück Gänsefleisch bezahlen und auch kein Wasser nehmen: für seinen Tee musste er mit dem Emailletopf zum See. Und für einen zweiten wieder. Dass sie sich so verhalten haben, lag am Schlachtverbot. Aber die Leute haben heimlich geschlachtet. Denn etwas derart Verrücktes, dass sie ihre Tiere nicht schlachten sollten, das hatten sie noch nie gehört. Woraus sich Kleidung nähen? Und warum dann überhaupt Rene halten? Unwillkürlich verglichen sie Ussow mit ihrem Lieblingskaufmann Mika (Nikiforow) Sumarokow. Der war selber geschickt und stark, und freigebig, sie warteten auf ihn wie auf die Rückkehr der lieben Sonne im Frühling. Im Krieg mit den Deutschen war er verwundet worden und hatte sich geschworen, wenn er lebend heimkommt, dann hilft er den Notleidenden. Wenn er geschlachtet hat, das waren reine Festtage, Jung und Alt, alles wurde satt. Denn Mika verstand was von der Renhaltung. Wusste einfach, dass man im Kleinen nicht spart, wie bei allem, worauf es ankommt.
    Ussow dagegen, der hielt das Tundraleben nicht aus, ging zum Unterrichten nach Bugrino, wo ein winziges Dörfchen im Entstehen war. Einer, den er da unterrichtet hat, war Miron Jewsjugina, der dann der erste Inselsowjetvorsitzende geworden ist. Der kam Ussow gerade rechtzeitig unter. Miron wurde also Kader: setzte sich eine Schirmmütze mit Kokarde auf den Kopf und zog einen Marineuniformmantel an. Streng, mit goldenen Knöpfen. Auch der Sekretär, Afanassi Pawlowitsch, lief so rum, in Matrosenjacke und -mütze. Genauso der Bäcker Majkow. Die Alten neckten Miron manchmal: »Bist jetzt ein hoher Natschalnik.« Golden funkelte die Mütze, zweireihig blinkten die Knöpfe …
    Bei Mirons Amtsantritt, da stand die neue Zeit unmittelbar vor der Tür. Im Jahr sechsundzwanzig wurde die Seegrenze dichtgemacht, danach blieben die norwegischen Schoner aus. Quasi auf dem letzten hat der Bruder, der Jegor, ihm eine Remington eingetauscht, gegen neun Rene, ein Gewehr im Kaliber 32, ein ungeheuer starker Selbstlader, von dem er sich bis ins Alter nicht getrennt hat. Später, als es auf der Insel zur großen Teilung kam, sind der Bruder und er entzweit worden: Jegor war neidisch auf Nikita, und es war nicht mit ihm zu reden. Aber was ist aus dem Neid geworden? Wo ist er hin? Das Gewehr dagegen, das ist bis heute intakt, als Erinnerung an die Zeiten, als es keinen Neid zwischen den Brüdern gab.
    Und da wars schon nicht mehr weit hin, bis Chudjakow auftauchte. Der setzte den geistesschwachen Mörder auf den Schamanen Winukan an, baute die Faktorei auf, konfiszierte die Rene. Und um die Leute auf ihre Seite zu ziehen, brachten die Roten zum ersten Mal so viel Alkohol auf die Insel, dass es bis zum Frühling reichte. So begann die neue Zeit.
    Als Chudjakow ihnen die Rene wegnahm, hatten die Inselbewohner schon das zehnte Jahr keine richtige Arbeit. Dass die Sumarokows nicht wieder kommen würden, war klar, und vor allem diejenigen, die nur vom Lohn der Kaufleute gelebt hatten, waren verarmt und demnach überglücklich, dass sie als Hirten zur Faktorei gehen konnten. Sie entwickelten sogar einen besonderen Stolz, weil sie jetzt über andere verfügen konnten. So wurden Nikitas Brüder Jegor und Jefim Bolschewiken. Wie viele.
    Nikita aber wollte sein freies Leben leben. Sie teilten die Rene der Familie untereinander auf, Nikita nahm die unverheiratete Schwester zu sich, damit sein Anteil größer wäre. Und weil Brauch Brauch ist, kriegte er fünf hundert Tiere. Aber dass per Los das Familiengold ihm zufiel, das hat die Brüder irgendwie gekränkt. Damals bei der Teilung, da haben sich alle auf der Insel entzweit. Seither herrscht auf Kolgujew Unfrieden. Und Jegor – der war ihm kein Bruder mehr, der sagte ihm gern: Wir nehmen dir deine Rene sowieso bald alle weg und fahren selber damit.
    Selbst als Nikitas Frau gestorben ist – da kam Jegor zum Totenmahl und zeigte

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