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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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und betrachtete mich aufmerksam und schweigend. Zwei Tischleuchter wurden hereingebracht, mit denen man ihm direkt ins Gesicht leuchtete. Mehrmals klackte der Verschluss des Fotoapparats. Seine Tochter erzählte viel Gutes über ihn. Er hörte zu, sagte aber selbst kein Wort.
    Dann machte sich sein jüngster Sohn zum Schollenfang fertig. Durchs Fenster sah man, dass der Regen nicht nachgelassen hatte und die See unwirtlich war – zwar wohl nicht bleiern, aber doch sichtlich schwerer als Zinn. Er schob unterdessen mit seinen gelben Krallen unablässig den abgenagten Knochen in der Schüssel hin und her und blickte aus der Ferne des Unbekannten auf den Fremden, den der Zufall mit unklarer Absicht in sein Haus gespült hatte.
    Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass er begriffen hat, weshalb ich zu ihm kam.
    Er hat sein Leben gelebt so gut er konnte, hat Kinder großgezogen und ein Mal den rituellen, heiligen Tanz aufgeführt. Sein Name ist Dmitri Sergejewitsch Winukan.

Der letzte Held
    Brächen wir hier die Geschichte der Menschen von Kolgujew ab, so würde sich ein tief trauriges und alles in allem unwahres Bild festsetzen. Denn auch die Insel Kolgujew hat widerspenstige und furchtlose Menschen hervorgebracht. Und sie wäre nicht Menschenland, wären die ruhmreichen Helden an ihr vorübergegangen, ohne mit ihrer Kraft die grenzenlosen Ebenen zu erproben. Denn erst nach den Helden erben die Sanftmütigen die Erde: wenn die Erde die Erinnerung an die Heldentaten besitzt und mit dieser Erinnerung die Unauffälligen und Schwachen bedecken kann.
    Du glaubst heutzutage wahrscheinlich nicht an Helden, stimmts, Petja? Aber das ist unklug. Wenn die Alkoholsucht die Menschen hinrafft wie die Pest, ist allein schon die Erinnerung an die starken Geister etwas Unerträgliches. Das Leben der Helden aus alter Zeit ist vergessen, bestenfalls hat sich irgendein Name in die Landschaft eingeschnitten, wie der Fluss Chabtschikal, dessen Quellgrund in der Heldenzeit liegt. Sie ist nicht fern, ja reicht sogar näher an uns heran als das nomadische Jahrhundert, und ich hatte Glück: Als ich das erste Mal hier auf Kolgujew war, traf ich den letzten aus dem untergehenden Geschlecht der Helden noch an. Die Erzählung über diesen Menschen hat mich für immer mit der Insel versöhnt.
    Zu jener Zeit gab es in den Sandgebieten von Kolgujew, wo jetzt die Bohrtürme stehen, noch Walrosskolonien, Chabtschikal jagte noch den Eisbären, und Iwan Purpej, auf den Boden seines Tschums gestürzt, die Adlerflügel ausgebreitet, flog mit seiner Seele hinüber aufs Festland zu seinem schamanischen Freund und Raben. Es gab gewöhnliche Füchse und Polarfüchse mit einem selten dunkelfarbigen Fell, und Grauwölfe. Doch als es keine Wölfe mehr gab, da ging auch die Zeit der Helden zu Ende. »Warum?«, fragst du, und ich antworte: »Weiß ichs? Aber ein Held, der ist dem Wolf verwandt.« Und er herrscht in einer freien, vom Menschen noch ungezähmten Welt. Er kennt keine Gesetze, keine Erschöpfung, kein kleinkrämerisches Mitleid mit den Schwachen. Die Welt gehört ihm ganz, ohne Grenzen und ohne Furcht, und er jagt, die Erschöpften mit seinen machtvollen Sprüngen beeindruckend, wild voran. Sache des Helden ist es, die anderen auf viele Jahre mit sich zu beeindrucken und im Gedächtnis des Volkes haften zu bleiben als dessen eigenes Antlitz, womit auch immer es sich eingegraben hat – ob mit sagenhaften Helden- oder blutigen Gräueltaten oder einer unerhörten Barmherzigkeit. Das Gemälde seines Lebens erschafft der Held auf unberührter, frischer Leinwand mit ausreichend Raum. Dann folgen Ordnung und Gesetz, ihm wird eng, das Übermaß seiner Kräfte peinigt ihn. Er kann sich nicht zähmen – weshalb auch der Held von einer neuen Zeit nichts Gutes erwarten kann. Du sagst: »Du redest seltsame Dinge.« Aber der Held, den ich vor Augen habe, ist ja doch ein epischer, nicht einer von jenen, die für ihren Kampf auf dem Feld der Ehre oder der gemeinen Arbeit einen Orden angesteckt bekamen. Und so antworte ich: »Urteile selbst.« Es gab keine Wölfe mehr und keine Bären, und die Fische blieben aus und mit ihnen die Meeressäuger. Papier breitete sich aus, Zeitungen, Arbeitstage, Lohnzahlungen, Geschäfte, Wodka, Trunksucht und Nichtstun. Und einhergehend damit vermehrten sich die Anderen, wenige zunächst, aber dann – verdrängten sie alles, und schließlich gab es keine Helden mehr.
    Ich hatte, wie gesagt, Glück: Den letzten aus dem aussterbenden

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