Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Geschlecht der Helden traf ich auf Kolgujew noch unter den Lebenden an. Ich erkannte ihn an der Achtung, mit der die Alten von ihm sprachen, die sich noch an die Nomadenzeit erinnerten und wussten, was ein echtes Leben ist. Nun bereiteten sie sich auf den Verlust vor. Der Held war krank, er würde sterben. Sterben wie die Hoffnung – denn sie hatten keinen zweiten.
In den abgelegenen Ecken des Hohen Nordens rücken unsere Zeit und die des Epos ganz dicht zusammen; sie liegen nur ein paar Jahrzehnte auseinander, und die Väter der heutigen Großväter verwahrten im Gedächtnis noch Stücke aus den alten, ebenso unendlichen Liedern wie das
Mabinogion
, über einstige Wanderungen und Siege, die ihre Ahnen auf dem Weg hierher in den Hohen Norden errangen.
O böses Verhängnis! Jetzt warten ihre Nachfahren – ein kleines, kraftlos gewordenes Volk, das sich bisweilen mit einem klagenden Ton in Erinnerung bringt – am Rande des Ozeans ergeben auf ihren Untergang …
Auf der Insel gab es bereits ein paar Gewehre, eine Axt, ein bisschen echten Tee und zwei blaue Porzellantassen von einem schiffbrüchigen norwegischen Schoner, als Trevor-Battye Nikitas Großvater Antip begegnete, über den er schrieb: »On Tipa war ein schöner alter Mann mit langem grauem Haar, der ganz dem Moses auf Kirchenfenstern glich. … Mich beeindruckte sein langer Schlittenzug, der stellenweise auch mit Booten beladen war. Später erfuhr ich, dass On Tipa einer der reichsten und zuverlässigsten Männer auf der ganzen Insel war.« Antips Klan war weitverzweigt, ein breiter, mächtiger Baum, den sein Sohn Timofej auf den letzten Blättern der Bibel skizzierte, die sie von den Solowezki-Inseln mitgebracht hatten. Auch Nikita, Timofejs jüngster Sohn, wurde natürlich seinerzeit, und zwar nicht später als im Jahr seiner Geburt (1906), in das Muster der Familiengenealogie verwoben. Leider werden wir diese phantastische Ahnentafel nie zu Gesicht bekommen, haben doch 1964 Prospektoren die Bibel aus Nikitas Jagdbalok gestohlen. Und was am Ende vergessen und was durcheinandergeworfen werden wird, das wissen wir nicht. Denn die Ardejews sind auf der Insel noch heute der stärkste Strang, und auf welche Geschichte einer auch zu sprechen kommt, immer steht ein Ardejew im Mittelpunkt. Geht es um Schamanen, so endet das Gespräch zwangsläufig bei Iwan Purpej, Nikitas Großonkel. Geht es um die Engländer, dann erinnert man sich des Fernrohrs von Trevor-Battye, mit dem »noch auf fünfundzwanzig Kilometer Entfernung ein Mastnagel zu sehen war«: es wurde von Nikita verwahrt. Und wenn von Reichtum die Rede ist, nun, wie sollte da nicht die Sprache auf Timofej und sein unglückseliges Gold kommen: drei kleine Truhen, auf die er sich knien musste, um sie zu schließen, so liefen sie über …
Vielleicht hat ja mit diesem Gold Nikitas ganzes Unglück begonnen, vielleicht hätte er es ja nicht annehmen sollen – aber kein Wort jetzt über diese Erbschaft. Denn in unserer Zeit Bosheit, Neid und Spott auszuhalten, dabei half Nikita natürlich sein gutes Blut – die Würde und die Freiheitsliebe seiner Vorfahren.
Ja und auch, dass er als junger Mann noch die Luft des freien Lebens geschnuppert hatte. Er hat noch die prächtigen Rentierherden und die Gänsejagden erlebt, hat noch die Sumarokows gesehen, diese russischen Kaufmannsbrüder, die in dauerhaften, aus Kieferwurzel gebauten Karbassen furchtlos über die raue See fuhren, mit einer Mannschaft aus unermüdlichen, ungezähmten Männern, die teils als hellseherisch, teils als verrückt galten. Die Sumarokows hatten eigene Tiere auf der Insel; ihren Hirten brachten sie Gerätschaft mit und Munition, Mehl, Fruchtbonbons, Tee, Stoffhemden. Die Rauchwaren und erlegten Gänse wurde gesondert abgerechnet. Wodka brachten sie nur in winzigen Dosen mit: ein Gläschen pro Hirte und ein Extrafläschchen für Großmutter Maremjana. Die Sumarokows waren robuste Kerle, fuhren selbst in die Tundra raus und konnten die Wurfschlinge nicht schlechter werfen als die Nenzen, ja fürchteten nicht einmal die See.
Einmal, da kam der Kaufmann Pawlow aus Pustosjorsk nach Kolgujew. Brachte Kringel mit. Zufällig sah Alexander Sumarokow, wie die fremde Karbasse gerade entladen wurde. Da rollte er eigenhändig alle Pawlow’schen Fässer vom Ufer ins Meer, und befahl, aus seinen Speichern vier Fässer Kringel kostenlos auszugeben. Pawlow hat die ganze Zeit zugesehen, aber nicht gewagt, Sumarokow in den Arm zu fallen. Von da an hat
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