Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
sollen die, die ihn verhöhnt haben, nur die Verantwortung übernehmen! Denn alles ist im Unbekannten miteinander verbunden, und sogar der »Scheiße-Schamane« in seiner entsetzlichen Erniedrigung und Stummheit hat von Zeit zu Zeit die Stimme Gottes gehört, und in sich Seine Kraft gespürt, Seine Klarheit, Seinen Zorn.
Es wird erzählt, dass, wenn er getrunken hatte, in ihm plötzlich das Feuer der Wut ausbrechen konnte – dann drohte er seinen Feinden, die bösen Geister der Parny auf sie zu hetzen, und versuchte, mit wütendem Armgefuchtel den väterlichen Tanz nachzuahmen und das Universum im Takt seiner kleinen Gerechtigkeit zu lenken.
O spiritus vini rectificatus! Wer gedankenvoll und dünkellos dein beißendes Aroma eingesogen hat, der kennt das Wesen deiner Kraft: den Menschen seiner erbärmlichen Rollen und absurden Verpflichtungen zu entkleiden und ihn in seiner Seelennacktheit unter dem unerreichbar hohen Himmel zu zeigen. Der hier manifestiert sich in grimmigem Zorn, ein anderer mag sich, vergessend, zum Embryo zusammenrollen, in Wahrheit erinnert er sich in diesen Augenblicken einzig und allein daran, wer er eigentlich ist: der Schamane, der Sohn des Schamanen, hellhöriges Ohr, Eulenauge. Wenn er trank, versuchte er, bei der Nachbarin die Trommel zu stehlen, die ihrem Mann gehört hatte, einem Schamanen, der noch vor ihrer Übersiedlung nach Kolgujew auf dem Festland umkam, und die sie in ihrer Abstellkammer versteckte. Einmal beging er den Frevel und zerschlitzte die begehrte Trommel, nachdem er sie nicht hatte ergattern können, mit dem Messer, versuchte das zu zerstören, was ihn anzog, mit dem umzugehen er aber weder das Recht noch die Kraft besaß. Vielleicht wollte er sich durch diesen geschlitzten Spalt in einem letzten verzweifelten Versuch zur Wirklichkeit des Unbekannten hindurchzwängen, die er so deutlich spürte, zu der er aber den Weg weder kannte noch zu finden imstande war.
Die Nachbarin verzieh ihm. Und als der Krebs sie zerfraß, da rief sie ihn zu sich und bat ihn, seinen Tanz aufzuführen – den einzigen Schamanentanz seines Lebens.
Er hat viel gesehen. Er sah, wie die Verbindungen mit dem Unbekannten, von den Menschen brutal gekappt, sich mit der Zeit lösten und die Welt, ihrer unsichtbaren Aufhängungen beraubt, sich verwarf. Die Menschen hörten auf, die Rene zu schlachten; sie zertrümmerten ihnen stattdessen, betrunken, die Schädel mit einer Brechstange. Sie verlernten, leicht zu leben, und verloren die Zähigkeit und die helle Weisheit des jagenden Wolfs, wurden böse und unersättlich wie Hunde und wie Hunde träge und folgsam. Sie begannen den Wodka mehr zu lieben als ihr langweiliges untätiges Leben, das vorzeiten, als sein Vater noch lebte, so mühsam war, aber so schön.
Sie hatten auf den Hügeln der Tundra gesessen und, mit dünnen Strauchzweigen ein kleines Feuer unterhaltend, ein Lied gesungen …
Es fiel ein feiner Regen. Das kaputte Holzpflaster oberhalb des trüben grauen Meeres war glitschig wie ein Stück feuchter Seife. In der Tür der Doppelbaracke standen zwei Nenzinnen, noch nicht alt, aber vom Leben doch schon ziemlich gerupft. Eine zog bitter an einer Papirossa. In den Augen der Frauen spiegelte sich Verwirrung, ja regelrecht Angst, als sie begriffen, dass ich zu ihnen wollte: Aus irgendeinem Grund waren sie auf die Idee gekommen, ich sei von der Miliz, obwohl es keine Miliz auf der Insel gab. Die Erklärung, ich sei von der Zeitung, beruhigte sie irgendwie, obwohl es im Umkreis von zweihundert Kilometern auch keine Zeitung gab und sich in den letzten fünfzehn Jahren hier kein Journalist mehr hatte blicken lassen. Im dunklen Barackenflur konnte ich im gelben nackten Lampenlicht kohlegefüllte Eimer auf dem Boden ausmachen, in Ritzen gestopfte Lappen, von denen ein starker Feuchtigkeitsgeruch ausging, sich räkelnde Hunde. Dann das Zimmer, das reglose Gesicht eines Mannes, der sehr alt zu sein schien und im Schlafanzug zwischen den Kissen eines schmutzigen Bettes saß. Aus dem großen Gesicht stach die krumme Nase hervor. Am meisten beeindruckten mich die Augen, die erfüllt waren von der Stummheit des
Unbekannten
, und die knochigen Hände, mit bestimmt zwei Zentimeter langen, wie bei einem Bären eingebogenen, gelben Krallen. Zu seiner Rechten war ein kleines Bord an die Wand genagelt, auf dem eine Schüssel mit einem abgenagten Gänsebein stand sowie eine Konservendose, in die er von Zeit zu Zeit aus schwachem Mundwinkel spuckte.
Er saß da
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