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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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hatte, offenbar noch immer als die romantischste Zeit seines Lebens ansah. Mein verschwommenes, aber hartnäckiges Interesse an dieser Insel, die er in seinem Herzen trug und die ich aus unerklärlichen Gründen zu lieben bereit war, nahm ihn allmählich für mich ein. Eines Tages versprach er mir seine dicke Wattejacke, weil er fand, mein Rollkragenpullover und die Regenjacke seien für den neunundsechzigsten Breitengrad doch selbst im Sommer etwas leicht.
    Wovon ich mich in Narjan-Mar nur zu gut überzeugen konnte. Weshalb ich der Jacke wegen, statt mich zum Warten zu zwingen, am Vorabend meines Abflugs bei Wjatscheslaw Kusmitsch aufkreuzte. Er begrüßte mich ruhig lächelnd und sagte, er habe es nicht geschafft (Oh Gott!), wegen der Jacke bei seinem Verwandten vorbeizufahren, aber er werde sie auf jeden Fall morgen mitbringen, wenn er mich abholt und zum Flughafen bringt. Vielleicht war es ja eine originelle Prüfung, um mich auf die Langsamkeit der Inselzeit vorzubereiten, weil er begriff, dass meine hysterische Moskauer Gehetztheit ein Stachel war, der allzu fest saß, um ihn einfach abzubrechen, dass er aber vielleicht mit zwei, drei solcher absichtlichen Verlangsamungen abzustumpfen war. Ich erhielt die Jacke wie versprochen am nächsten Morgen, aber an diesem Vorabend bekam ich das Abschiedsessen nicht herunter, weil alle Ängste vor dem Unbekannten sich um diese Jacke zusammenzogen, weswegen ich auch den Worten über die kleinen unterirdischen Menschen so gut wie keine Bedeutung beimaß. Das kann ich anhand der Notizen in meinem Tagebuch sehen – von mir geschriebene Namen von Leuten auf Kolgujew, die Korepanow gut kannte und an die ich mich unter Berufung auf ihn wenden konnte auf meinen ersten Wegen in dem unbekannten Land. Hier der genaue Eintrag: »Grigori Iwanowitsch Ardejew, Bäcker, Heizer, kann viel erzählen; Nina Wassiljewna Winukan, Rentnerin, weiß viel, eine Erzählerin; Klawdi Iwanowitsch Ardejew, Brigadier der Renhirten. Märchen. Irdische Menschen.« Also nicht einmal »unterirdische«, sondern »irdische«, vielleicht auch »irdene« – meine Handschrift ist nicht zu entziffern.
    Erst recht behielt ich bei meiner damaligen Verfassung nicht, wie sie heißen. Und hätte ich es behalten, es hätte nichts geändert, denn ich betrachtete sie mehr oder weniger als Gestalten aus nenzischen Märchen, wie diese Halb-Menschen, die von allem, was man braucht, nur die Hälfte besitzen: bloß eine Hand, ein Bein, ein Auge, ein Ohr … Die nenzische Folklore kennt eine Menge solcher Wunderdinge. Unglaublich, wem man im engen Raum eines einzigen Märchens begegnet: Da gibt es Menschen, die mit den Beinen nach oben laufen, und nackte Menschen, und solche, die übereinander stehen, oder die vorne und hinten ein Gesicht haben, oder auch Moosesser, die abgesehen von all ihren Absonderlichkeiten sich obendrein noch als Menschenfresser erweisen, vor dem Feuer Angst haben und erst wieder zu gewöhnlichen Menschen werden, wenn sie in Stücke geschnitten und anschließend wiederbelebt werden. All das sind, wie gesagt, Gestalten aus einem einzigen, von Boris Michajlowitsch Schitkow 1908 auf der Jamal-Halbinsel aufgeschriebenen nenzischen Märchen, aber man könnte jeden halbwegs repräsentativen Folkoreband zur Hand nehmen und darin derartige Unerhörtheiten finden, dass »Erdbewohner« einem in nichts wunderlicher erscheinen würden – zumindest nicht einem Menschen, der so uninformiert ist wie ich zu Beginn meiner nördlichen Odyssee.
    Von der ersten Fahrt auf die Insel hat sich mir vor allem das Ren im Gedächtnis eingegraben und alles, was so oder anders seine Geschichte begleitet hat: der große Schluck Spiritus auf dem Dach des Geländefahrzeugs und das entsetzliche Jaulen und Kettenknacken des Gefährts, mit dem es, bis zu den Scheinwerfern im Moor eingesunken, tief im graublauen essbaren Lehm wühlte; die senkrechten Anstiege und die ebenso schroffen Abfahrten, von denen einem die Luft wegblieb; der gigantische Stein auf einer Hügelkuppe, wie der Tisch für ein Gelage von Riesen; und schließlich die Rene. Das Rennen Tausender Rene, die in den Korral getrieben werden. Der Kreislauf einer unauf haltsamen Bewegung. Augen von Frauen. Fetzen roten Basts, die von zerschundenen Geweihen baumeln, blutüberströmte Rücken …
    Überhaupt das Blut, das rote.
    Das rote Gelage, dessen Zeuge ich wurde: wenn ein Ren im Handumdrehen geschlachtet und ausgeweidet ist und die Leute sich von dem, was fünf, sechs

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