Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Gräbern umher und fing an, die Gesichter zu fotografieren – Gesichter eines Volks, das schon halb fortgegangen ist unter die Erde und in die Familienüberlieferungen: Porträts, um jedes x-beliebige ethnologische Museum der Welt neidisch zu machen …
Da stieß ich auf ein Kreuz mit dem Oval eines Grabbildes, das einen wunderschönen jungen Mann zeigte, in weißem Hemd und mit tadellosem Scheitel. Aus irgendeinem Grund erkannte ich ihn sofort. Es war Andrjucha Apizyn, offenbar direkt nach Abschluss seiner Schul- oder Armeezeit aufgenommen, im Alter von achtzehn, höchstens zwanzig. In der Tundra damals hatte er derart zerzaust und wild ausgesehen, dass ich mich zuerst vor ihm gefürchtet hatte, beinah noch mehr als vor den andern, weil er in einer riesigen roten Maliza und in Toboki steckte, außerdem hielt ich ihn bis zum Schluss für einen Mann um die vierzig, dabei war er nicht älter als ich, wahrscheinlich eher sogar jünger, keine dreißig. Die Tundra nutzt die Menschen einfach schrecklich ab und lässt sie natürlich auch mächtig verwildern, weshalb es mir beim Blick auf das Grabbild schwerfiel, mir vorzustellen, er könnte auch irgendeine Zivilisationsexistenz geführt haben – wobei ich hier nicht an LKW- oder Busfahrer und nicht einmal an Lehrer denke, sondern mindestens an Filmschauspieler: derart schön war sein Gesicht mit den kaum merklich geschlitzten, dunklen, verwegenen und hoffnungsvollen Augen.
Er hatte mir gefallen: er war geschickt, kraftvoll, fuhr wie ein Teufel mit dem Schlitten – und er hatte, vielleicht weil er etwas spürte, vielleicht auch einfach aus Seelengröße, mich unter seine Obhut genommen. Zumindest hatte er als Erster mit mir geredet – wodurch seine Jungs begriffen, dass sie sich entsprechend zu verhalten hatten, war er doch stellvertretender Brigadier. Sie hörten auf ihn – nicht aus Pflicht, sondern weil sie ihn mochten. Er besaß unglaublichen Charme, und ich weiß noch, nachdem ich aus der Tundra fort war, fragte ich mich damals immer wieder, ob mich das Schicksal mit einem echten Genie des nenzischen Volkes zusammengeführt hatte, einem herrlichen, unermüdlichen, klugen, unternehmungslustigen und obendrein noch zutiefst guten …
Ich erinnere mich, wie am Ende eines Arbeitstags im Korral die Jungs, die herumgerannt waren, bis es ihnen schwarz vor Augen war, mit Geheul eine besonders wilde Kuh einholten, ihr blindwütig-genussvoll Stiefeltritte in den Bauch versetzten und »Hoch, du Fotze!« schrien. Andrej begriff, dass sie müde waren, rauchen und essen wollten, aber er korrigierte sofort: »Nicht Fotze, sondern Täubchen …«
Das fiel so unvermutet in der Hölle der Zählung, dass ich ihn einfach sofort mochte.
Über seinen Tod weiß ich so gut wie nichts. Es heißt, dass er heiraten wollte, aber die Situation bei ihm war nicht besser als bei Alik und Tolik: Es gab noch zwei Brüder und eine Mutter, die von Zeit zu Zeit etwas von einem schwarzen Vogel annahm – da war kein Platz für eine Frau. Er hockte im Dorf, trank und trank, und schließlich fuhr er in die Tundra hinaus, in seinen Balok, und erschoss sich.
Ich weiß, das ist nicht meine Schuld. Aber geht es denn darum? Ich beuge mich hinunter zum Grab, streiche über das Gras: »Andrjuscha … Tja, hat es sich also ergeben, dass wir uns so wiedersehen …«
Du kannst nicht allen helfen, mit denen dich das Leben zusammengeführt hat. Nicht einmal allen, die du liebgewonnen hast. Und trotzdem. Ich denke: Was hätte ihn retten können in dem Moment, als er sich den Lauf des Gewehrs in den Mund schob und wusste, dass es nicht versagen würde?
Nur ein Wort.
Und was hätte ich ihm gesagt, wäre ich bei ihm gewesen? Gleich das erste Wort muss durchdringen, sonst ist es zwecklos.
»Andrej. Das wird alles. Du bist jung und stark. Heirate. Hör mit dem Trinken auf. Bau einen Schlitten, einen Tschum. Geht in die Tundra, weg aus dem Dorf, kauft Rene, fangt ein Nomadenleben an …«
Nein, so nicht.
»Andrej. Weißt du noch, deine Jungs haben die Kühe mit Stiefeltritten in den Bauch traktiert und sie mit ›Fotze!‹ angebrüllt – aber du hast sie zurechtgewiesen, hast die Rene gestreichelt und gesagt: ›Nicht Fotze, sondern Täubchen‹, komm …«
Der Schuss.
Ach, mein Gewissen kommt einfach nicht zur Ruhe, etwas in mir denkt sich pausenlos eine Rettung aus, als sei der Schuss noch nicht gefallen.
Nun ja. Und dann entdeckte ich ein frisches, mit Brettern abgedecktes Grab, darauf ein Kreuz mit
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