Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Jahrhunderts zu ihrer Besitzung machten!) Mit den Siirten sind Vorstellungen von Reichtum verbunden: sie besitzen – genau wie die unter der Erde lebenden Gnome Westeuropas – »Silber und Kupfer, Eisen, Blei und Zinn in Überfluss«. Die Überlieferungen sprechen von »Kesseln und anderen Gefäßen aus Kupfer und Gusseisen, nebst Spuren von Zinn und Blei«, die die Siirten in ihren Behausungen zurückgelassen hätten, von »Sihirtja-Esja« (Siirten-Eisen), von Messingtassen und kupfernen Schmuckplättchen, die man in den winddurchwühlten Sandkuppen finden kann. Daher rühren auch die sich um einen Schatz rankenden Legenden, die in – oftmals durch Hunderte von Kilometern getrennten – Ortsnamen ihren Niederschlag gefunden haben. So erhebt sich der Klad-Sedako (das »Schatzhüglein«) beim Dorf Nelmin Nos an der unteren Petschora, der Charde-Sede dagegen (der »Wohnungshügel«, in dem der Überlieferung zufolge nicht nur Siirten lebten, sondern auch »der reiche Schatz eines verstorbenen Kaufmanns« vergraben war, dessen niemand habhaft wurde) an der Ostküste der Jamal-Halbinsel. Wenn die Wohnstätte eines Siirten verwaist, stürzt der Hügel ein. Aber nur ein Schamane kann mit Sicherheit sagen, ob sich in einer Kuppe Siirten befinden oder nicht. Obgleich sie unter der Erde leben, fertigen die Siirten sehr kunstvoll geflochtene Erzeugnisse aus Birkenrinde an; auch die Eigenschaften des Grases sind ihnen gut vertraut: im Innern einer Höhle wurde ein Bogen gefunden und »Stücke eines ein paar Finger dicken Stranges … Überbleibsel von dem Hauptseil eines Fischnetzes (tėtėvà der Russen) … welche aus Gräsern geflochten waren«. Sie besitzen Messer »von eigenthümlicher Gestalt«, die für die Nenzen stets ein Gegenstand von Interesse waren: einige besaßen solche Messer, doch hat sich offenbar keines bis in die heutige Zeit erhalten. Ein anderer charakteristischer Gegenstand der Siirten ist ein Eimerchen, oder meist mehrere, aus weißem, trüb schimmerndem Metall: Treffen die jungen Siirtinnen unvermutet auf einen Menschen, lassen sie diese Eimerchen vor Schreck am Bach fallen. Die jungen Siirtinnen sind sehr schön, prunkvoll gekleidet und imstande, das Begehren jedes ihnen zufällig in der Tundra begegnenden Mannes zu wecken. Das Motiv der Heirat mit einer dieser unterirdischen Schönheiten – die Begegnung mit ihrem Vater, einem »alten Siirten«, und sogar das Eintreten hinter ihr in eine Siirten-Behausung – ist eines der interessantesten Motive in den Erzählungen über dieses Volk. Obwohl die Siirten von realer Arbeit leben (»sie fangen des Nachts Fisch«), verfügen sie zugleich über allerlei ungewöhnliches Können: Sie halten bei sich in den Tiefen der Erde Mammuts, können unsichtbar bleiben oder augenblicklich verschwinden, als hätte der Erdboden sie verschluckt. Die Nenzen aus Nelmin Nos beteuern zum Beispiel, dass, wenn die Frauen in der Umgebung des Klad-Sedako Moltebeeren sammeln, sie des Öfteren die Glöckchen läuten hören, mit denen die Kleiderärmel der Siirtinnen besetzt sind, die ihrerseits etwas in der Nähe verrichten, aber unsichtbar bleiben. Dasselbe gilt für die Männer: Die Nenzen fischen an einem Ende des Sees, die Siirten am anderen. »Sie sind nicht sichtbar, aber hörbar.« Die Siirten besitzen Schutzamulette und verfügen überhaupt über Zauberkräfte, aber ihr Zauber ist niemals böser Natur.
Diesbezüglich gibt es in Ljudmila Chomitschs Artikel eine bemerkenswerte Erzählung darüber, was dem Renhalter Andrej Soboljew in der Malosemelskaja Tundra widerfahren ist: Er fuhr mit seinen Renen in die Tundra, als er plötzlich ein Mädchen mit Eimern sah. Zunächst wollte er ihm hinterherjagen, aber dann erkannte er an den Eimern und dem Schmuck (aus einem besonderen, trüb schimmernden Metall), dass es eine Siirtin war. Das Mädchen blieb stehen und hielt ihm einen weißen Stein entgegen. Kaum berührte Soboljew den Stein, da … erwachte er und entdeckte, dass er auf einer Erhebung in der Tundra lag. Den Stein hielt er in der Hand. Von da an war Soboljew »ein klein bisschen verrückt«: schlief schlecht und fürchtete sich vor irgendetwas (vorher hatte Soboljew übrigens ein klein wenig zu schamanisieren vermocht, zum Beispiel konnte er das Blut besprechen). Den Stein hütete Soboljew sorgfältig. Aber zu Beginn des Krieges fand seine Frau ihn in einer seiner Hosentaschen und warf ihn weg. Als Soboljew das erfuhr, ging er mit den Worten »Ich komme nicht mehr
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