Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Täfelchen: »Ardejew Alexander Gawrilowitsch. 1959 – 1996.« Ich blieb stehen und sagte: »Verzeih, Sascha.« Ich fühlte mich doppelt schuftig, weil ich das für Sascha mitgebrachte Messer Wanka (dem Renhirten, der unsere Rucksäcke diesmal mit dem Schlitten in die Tundra gebracht hatte) geschenkt und nur mein eigenes einstecken hatte. Ich holte es hervor und legte es unter ein Brett auf den Grabhügel: Ruhe in Frieden, Sascha, du Mensch, falls wir uns wiedertreffen, sagst du mir, ob ich richtig gehandelt habe …
Ich legte ihm auch eine Zigarette hin und, als ich weiterging zwischen den Gräbern, auch allen anderen Bewohnern dieses Dorfes je eine. Darunter einem gewissen Kanjew, Flugzeug- oder Hubschrauberpilot wohl (neben seinem Kreuz lagen Rotorblätter), sowie dem Vater von Grigori Iwanowitsch, Iwan Nikolajewitsch: Komm, rauch eine, alter Sprengmeister und Trinker und überhaupt bemerkenswerter Mensch! – und hatte im Nu alle Zigaretten verteilt, und eine blieb übrig für mich. Was die Stimmung betraf, so war es gar nicht schlecht zwischen den Toten. Ich setzte mich ins vergilbte Gras auf einen grablosen Hügel. Die Flut hatte ihren Höchststand erreicht und nicht nur das Tal des tückischen Bachs überspült, sondern auch das ganze Bugrjanka-Tal bis zu den eigentlichen Uferböschungen. Ich fühlte mich jetzt auf dieser Friedhofslandzunge wie auf einem Segler, der gleich aus der Flussmündung hinaus ins offene Meer gleitet – bloß hatte mein Schiff eine recht eigenartige Takelage. Ich nahm den letzten Zug aus meiner Zigarette: Auf die Menschen hier und auf die, die noch lebten. Alles kann verschwinden, binnen Tagesfrist mit Friedhofsgras überwuchert sein – dann wäre einfach noch ein mit den Menschen verbundenes Leben der Insel vergangen, wie schon viele Male. Die geringe Alkoholtoleranz eines Volkes und sein Unvermögen, die ökonomische Existenz den Erfordernissen des Jahrhunderts anzupassen, ist für die Geschichte kein Argument, sie hat schon stärkere beiseitegefegt.
Und trotzdem wünschte ich den noch Lebenden das Überleben; von hier aus – im Namen der Toten – wünschte ich ihnen, sie überlebten, passten sich an und existierten weiter in der Zeit, auch wenn dafür ein nenzischer Noah eine Arche aus Senkholz bauen und alle noch Übriggebliebenen aufs Festland bringen und dort (wie Moses) vierzig Jahre mit seinem Völkchen in den Räumen der Tundra kreisen und kreisen müsste, bis es geeint und zur Vernunft gekommen wäre wie die Juden.
Hier, am Rand, habe ich alles begriffen: Wäre ich nicht an diesem Ort gewesen, ich hätte keine Worte gefunden, und ich hätte der Insel nicht Lebewohl sagen können. So wie ich nach Petkas und meiner Expedition unmöglich nicht wieder hierher zurückzukehren und die Geschichte von den kleinen unterirdischen Menschen halberzählt im Raum stehen lassen konnte. Denn damals, 1994, wollte ich nicht hierher zurückkehren, bei Gott nicht! Aber ich konnte unmöglich nicht zurückkehren. Denn diese ganze Geschichte mit der Insel, die vor so langem begonnen hatte, war nicht nur die Geschichte einer Flucht: von der Verzweiflung hin zum schöpferischen Arbeiten, von der Jugend zum Erwachsenenleben, von der Neurose zur Liebe, sondern auch der Versuch, diese konkrete Insel hier, Kolgujew, während eines Augenblicks in der geistigen Kartographie der Menschheit zu halten, da sich alle von ihr abgewandt hatten und sie anscheinend niemandem etwas anderes als Grauen und eine diffuse Vorsicht einflößte. Aber ich, der dieses Stückchen reiner Erde zu lieben sich herausgenommen hatte, durfte ich mich am Ende des Weges abkehren? Nein, nein, dazu hatte ich jetzt einfach kein Recht. Durch ein merkwürdiges Zusammentreffen verschiedener Umstände – ein viel merkwürdigeres als das jener Umstände, von denen ich dir früher berichtet habe, mein Freund Pjotr – wurde die Insel Teil meines Lebens, füllte es ganz mit sich aus, füllte mich ganz aus, und es gab eine Zeit, da waren ihre wüsten flachen Tundren, durch die man stundenlang einsam streifen kann, für mich der herrlichste, begehrteste Ort auf der Welt. Und deshalb muss ich von der Insel lückenlos Bericht geben und wenigstens kurz vor dem Ende die märchenhafteste unter all ihren Geschichten erzählen.
Die Zauberhügel
Von den kleinen unterirdischen Menschen hatte ich schon vor langem gehört, noch auf meiner ersten Reise, und zwar von Korepanow, der die drei Jahre, die er als Inselvorsitzender auf Kolgujew verbracht
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