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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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erinnerte ich mich oft an diese meine Knauserigkeit aus Prinzip und schämte mich dafür und dachte, ich kaufe mich von meiner Sünde los und bringe Sascha ein Geschenk mit – eins, das alle blass werden lässt vor Neid. Ich überlegte lange, was, besorgte schließlich keinen Wodka – den würde ich diesmal auf Kolgujew in den nötigen Mengen kaufen –, sondern drei Klappmesser: für Alik, Tolik und Sascha. Keine schlechten, obwohl aus etwas zu hartem Stahl, sie zu wetzen wäre nicht einfach, aber dafür sahen sie nach was aus – drei Prachtstücke mit orientalischer Klingenform, die Kupfergriffe mit Holzapplikation: ein Genuss, wie sie in der Hand lagen!
    Ich fahre also mit meinen Geschenken nach Kolgujew und überreiche Alik und Tolik ihre Messer.
    »Wo ist Sascha? Hab ihm auch eins mitgebracht.«
    »Sascha, der ist letztes Jahr gestorben …«
    Tja, so kommt es. Ich hatte das Leben in meine inneren Berechnungen mit einbezogen. Wäre da nicht diese verbohrte, mit Gründen bestens untermauerte, beschämende Knauserigkeit gewesen, ich wäre Sascha nichts schuldig geblieben dafür, dass er uns seinerzeit mit dem Boot zur Waskina-Mündung gebracht hat. Ein lumpiger Zehner, nun ja – zu spät. Jetzt kann ich meine Schulden nicht mehr begleichen, mich nicht mehr ehrlich machen. Es gibt den anderen nicht mehr. Auch, wenn ichs ihm hundertfach abgelten wollte …
    Vielleicht besteht der merkwürdigste Gedanke, der mir im Verlauf der gesamten Reise kam – und der wichtigste –, darin, dass man sich von jemandem, der einem nur ein bisschen nahegekommen ist, nicht frei von Scham verabschieden kann. Wer würde zu behaupten wagen, dass er sich nirgends verschuldet und alles von A bis Z getan hat? In Wahrheit bleiben wir immer auf halber Strecke stehen. Machen alles nur halb, schaffen alles nur halb, geben nur halb … Weshalb wir auch nicht frei von Scham heimkehren können. Nicht frei von Scham ins Himmelreich gelangen …
    Nun, und drei Jahre später, als du schon nicht mehr an meiner Seite warst, Pjotr, hielt ich es am Tag vor meinem Abflug – wieder so ein trübseliger Tag, wieder zog sich das Dorf um mich wie eine Stockfinsternis zusammen – nicht mehr aus und lief dorthin zurück, woher ich gekommen war, in die Tundra, in den Raum. Ich stapfte ziemlich lange durchs Bugrjanka-Tal, stiefelte von der Flussmündung, wo einst die Batterie stand und auf dem Steilufer von den Geschütznestern noch, blumenüberwachsen, die Trichter übrig sind, bis zum Friedhof – dem »neuen«, wie sie hier sagen, also nicht dem an der Küste, sondern dem, der auf der sich in den Fluss schiebenden Landzunge liegt. Du bist dort nie gewesen, und ich bis zu diesem Tag auch nicht. Um ihn zu erreichen muss man entweder einen langen Bogen über einen schmalen Hügelrücken durch die Tundra machen – den Weg nimmt normalerweise das Geländefahrzeug mit dem Sarg und die ihm folgende Trauergesellschaft – oder durch die feuchte Talsenke zwischen Tundra und Landzunge gehen, dabei einen tückischen Bach durchqueren, sofern das geht (bei Flut strömt dieses kleine Bächlein rückwärts, wird erst tief und dann unpassierbar), und gradenwegs auf die Gräber zuhalten. Ich war durch den tückischen Bach gewatet, der schon rückwärts strömte, und hielt direkt auf die Erhebung zu, genauer: die Landzunge, auf deren äußerstem Ende, vor dem Hintergrund der weiten Flussmündung und des sich öffnenden Meeres, die Grabkreuze zu sehen waren und diesem Meer und Himmel gegenüberliegenden Ufer eine besondere Bedeutung verliehen.
    Ich erreichte den Friedhof in der Spur der Geländefahrzeuge. Ich hatte es nicht eilig, die Flut hatte gerade erst eingesetzt, und der lange Rückweg schien mir recht weit; außerdem war es hier so schön und still, so zart strich mitunter ein Lüftchen am Ohr vorbei und so melodisch pfiffen die Strandläufer einander etwas zwischen den Gräbern zu, dass ich hierzubleiben beschloss. Ich lief zwischen den Gräbern umher und stellte fest, dass da Dinge zurückgelassen worden waren: auf einem eine leere Flasche und, durchweicht, Zigaretten, auf einem andern eine Bratpfanne, auf einem dritten ein volles Konservenglas. Allmählich ergriff ein seltsames Gefühl von mir Besitz: als ob all diese Toten hier mir gut bekannt wären, ja, dass gerade sie mir im Dorf gefehlt hatten, diese Menschen mit den bemerkenswerten Gesichtern. Die Menschen jener unsündigen Epoche, die Ada und Wolodja noch angetroffen hatten … Ich lief zwischen den

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