Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Minuten zuvor noch Träger eines eigenständigen Lebens war, einfach lange Stücke warmen, zarten Fleischs abschneiden, sie ordentlich in dem frischen Blut schwenken, das im klaffenden Bauchfell steht, und sie sich dann in den Mund bugsieren, bemüht, sich nicht einen Tropfen des dicken, berauschenden Bluts entgehen zu lassen, weshalb sie es schmatzend einschlürfen und nur notgedrungen die das Kinn herunterperlenden Tropfen mit den Händen abwischen, wovon beides, Gesicht wie Hände, alsbald rotverschmiert sind …
Bei dem roten Festmahl war bestimmt auch Klawdi Iwanowitsch dabei, und ich ahne, wer es war: ein kräftiger Greis in Maliza, mit einem Messer, das in einer alten bronzeverzierten Scheide steckte, einer von diesen alten Männern, wie ich sie bis dahin noch nirgendwo gesehen hatte … Auch nicht in Bugrino. Sie schienen mir in der Tundra zu leben, aus der Tundra hervorzugehen … In gewisser Weise war es tatsächlich so, denn diese grauhaarigen Helden, die zwischen den Hügeln und Renherden wie Boten aus den längst vergessenen nomadischen Zeiten in Erscheinung traten, gingen in der Siedlung vollkommen unter, sobald sie eine Wattejacke angezogen hatten und sich in ebensolche vom Alltagseinerlei niedergedrückten Dorf bewohner wie alle um sie her verwandelten. Einer dieser Greise kam immer morgens mit dem Schlitten. Jetzt, da ich mich an sein Gespann erinnere – kraftvolle Tiere in herrlichem Geschirr –, begreife ich: Nur der Brigadier Klawdi Iwanowitsch kann der Besitzer solcher Rene gewesen sein und sie mit vergleichbarer Würde gelenkt haben. Ich rückte ihm beim Fotografieren förmlich auf den Leib und war von der vollkommenen Natürlichkeit und Ruhe, mit der er sich von Anfang an der Kamera gegenüber benahm, schlicht beeindruckt.
Auch Grigori Iwanowitsch Ardejew traf ich hier zum ersten Mal, auch er ist mir gut im Gedächtnis: das eindrucksvolle, von tiefen Falten durchfurchte Inkagesicht, die alte bronzebeschlagene Scheide am Gürtel, das einem finnischen ähnelnde Messer in seinen Händen (auf der rechten hatte er eine Warze), die tabakgelben Finger und die gelben Zähne, und wie er die Papirossa pfeifenartig paffte, sie mit Daumen und Zeigefinger haltend und zwei, drei Züge hintereinander machend … Wie sich zwei Jahre später herausstellte, hatte auch er mich im Gedächtnis behalten, aber damals in der Tundra schien es mir nicht angebracht, ihn über die alten Zeiten zu befragen, schon gar nicht über diese irdischen oder irdenen Menschen. Obwohl ich damit natürlich gerade die einzigartige Gelegenheit vorübergehen ließ, Grigori Iwanowitsch in einer großen Menschenversammlung zum Reden zu bringen. Der Abend, wenn im Balok die Petroleumlampe angezündet wurde, wäre ein ausgezeichneter Zeitpunkt für Fragen gewesen, und sie hätten nichts Absurdes oder Peinliches gehabt: Die Nenzen sind große Liebhaber diverser wundersamer Geschichten, erst recht, wenn sie so farbenprächtig erzählt werden, wie Grigori Iwanowitsch – und nur er – das kann. Auf eine solche Erzählung hätte gewiss ein anderer reagiert, hätte ergänzt, was er weiß oder zumindest mit halbem Ohr gehört hat …
Aber leider begriff ich noch nichts von jener Zeit und wusste vor allem nicht, was fragen.
Wieder im Dorf, bin ich zwar trotz allem zu Nina Wassiljewna Winukan gegangen, der Rentnerin und Erzählerin, aber ich verhielt mich falsch: richtete ihr Wjatscheslaw Kusmitschs Grüße nicht breit genug aus, bot ihr keinen Tee an, befragte sie nicht nach ihrem Leben, sondern packte stattdessen einfach den Kassettenrekorder aus und bereitete alles für eine Aufnahme vor. Sie jedoch antwortete derart widerstrebend und einsilbig, dass ich nicht einmal auf Aufnahme drückte, das Gespräch, fand ich, lohne nicht, es bestand mehr oder weniger aus »ja«, »nein«, »nein«, »ja«. Alles in allem verließ ich Nina Wassiljewna ohne Bedauern und überzeugt, mir sei trotz der Kürze unseres Gesprächs nicht viel entgangen.
In Wahrheit war ein Geheimnis zum Greifen nah gewesen. Und was für eines!
Ich hatte auf der Schwelle zu einem Rätsel gestanden, von dem mir, als ich fünf Jahre später endlich begriff, worum es ging (und es ging um die
Parallelität
von Welten), beinah der Atem stockte. Ursprünglich jedoch sah ich keine Tür und eigentlich auch keine Schwelle. Und der Gedanke, mich dorthin, in diese parallele Welt, durchzuzwängen, konnte erst viele Jahre später auftauchen, als … Nun, eine Summe von Faktoren trug dazu
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