Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
bei. Obwohl die Lösung des Rätsels – sofern es überhaupt gelöst werden kann – oder zumindest ein immer intensiveres Sichhineinarbeiten in eben dieses Rätsel, in die Tiefen aus antwortlosen Fragen, die Geschichte des Hohen Nordens in ein vollkommen neues Licht zu tauchen vermag. Sofern, das muss wiederholt werden,
ausschließlich
Geschichte verhandelt wird, Historie.
Denn es ist durchaus möglich, dass es im Kern um wesentlich feinere Gegenstände geht, die einige Forscher gespürt und in groben, von wissenschaftlicher Beschreibung noch sehr weit entfernten Zügen durchaus umrissen haben. Die Frage ist nämlich, ob man wissenschaftliche Ergebnisse dort erwarten kann, wo die Gesetze der Wissenschaft im Grunde enden und der Raum der … sagen wir: der paradoxen Erfahrung beginnt.
Dies ist keine müßige Frage, wenn von den Siirten die Rede ist, die – wie andere Völker, die von der Erdoberfläche verschwinden wollten – still in ihren Hügeln leben und, wie man weiß, verborgene Kenntnisse besitzen über Wundheilung und Heilpflanzen, aber auch über einige Seitenarme der Weltgeschichte, die, gleich einem Fluss, in ein unterirdisches Bett abgeflossen sind.
Mit der Notwendigkeit, sich auf die siirtische Doppelrealität einzulassen, waren als Erste die Ethnographen konfrontiert, als sie feststellen mussten, dass es im Nenzischen neben den Wörtern für »Märchen« (also ausgedachte Erzählung) und »Begebenheit« noch einen Begriff für ein weiteres Narrativ gibt: Die den asiatischen Raum bewohnenden Nenzen nennen es »Wa’al«, die europäischen »Sjudbabz«. Diese Erzählungen sind reich an mitunter ganz und gar unglaubwürdigen Einzelheiten, werden aber gleichwohl von den Erzählern hartnäckig als wirklich Geschehenes interpretiert und behandeln ausschließlich ein Thema, nämlich die kleinen unterirdischen Menschen – die Siirten.
Die ersten nenzischen Schilderungen über sie wurden Mitte des 19. Jahrhunderts von dem baltendeutschen Alexander von Schrenk während seiner Reise ins Petschora-Gebiet aufgezeichnet. 48 Seither ist das Material über die Siirten (oder Sihirten) beträchtlich angewachsen. Doch herrscht, wie Ljudmila Wassiljewna Chomitsch nachweist 49 , auf dem gesamten nenzischen Territorium – von der Kanin- bis zur Tajmyr-Halbinsel – eine einheitliche Vorstellung von diesen Bewohnern des Erdreichs, und das von Schrenk vor anderthalb Jahrhunderten in der Malosemelskaja-Tundra Aufgezeichnete deckt sich dementsprechend weitgehend mit den von Waleri Nikolajewitsch Tschernezow 1929 sowie Lew Pawlowitsch Laschukow 1961 auf der Jamal-Halbinsel gesammelten Daten.
Die meisten Nenzen, selbst wenn sie nichts Genaues über die Siirten wissen, sind überzeugt, dass sie unter der Erde, in Hügeln und Höhlen lebende (oder kürzlich noch gelebt habende) kleine Menschen sind. Menschen eben – nicht Märchengestalten: Die Nenzen unterscheiden das Volk der Siirten von dem der »Chabi«, den Chanten, die gleichfalls eine sehr alte sibirische Ethnie sind. Indes sind mit den Siirten bestimmte Vorstellungen hinsichtlich der Vergangenheit verbunden, und zwar mit einer jüngst verschwundenen (oder noch ins Vergangene verschwindenden) Zeit. Freilich können sie unvermittelt aus der Vergangenheit auftauchen, als hätten sie bei ihrem »Fortgehen in die Legende« eine Türe offengelassen. Generell schält sich im Zusammenhang mit den Siirten eine verblüffende Vorstellung von der Vergangenheit als einem
parallelen Raum
heraus: »Die Sihirten waren früher Menschen, jetzt trifft man sie nur noch im Wa’al. Sie leben unter der Erde, in Höhlen, und verstecken sich vor den Menschen«, nur selten noch bekommt sie jetzt jemand zu Gesicht. Sie sind von kleinem Wuchs, schön und friedliebend (obwohl einige alte Überlieferungen von Kämpfen zwischen den Nenzen und den Siirten berichten). Sie meiden den Kontakt mit Menschen, ganz wie sie die Sonne meiden. Aber wenn es doch zu einer Begegnung kommt, können sie sich mit den Menschen unterhalten, ihre Sprache ist für die Nenzen verständlich, auch wenn man sich einhören muss, weil ihr Reden wie Stottern klingt. »Es gibt endlich russische Bauernfamilien in Pustoзèrsk, so wie auch зyrȧnische in Iжma, die ihr Geschlecht von den Aborigenen des Landes herleiten«, also den Siirten. »Solche Familien sind in Pustoзèrsk unter andern die Habaròv und die Sumarókov …« (Es ist verblüffend, dass Schrenk die Sumarokows erwähnt, die Kolgujew Ende des 19.
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