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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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macht die Petschora eine scharfe Biegung, dann taucht hinter einer Landzunge aus Sand plötzlich die ganze Siedlung auf einmal auf: eine Handvoll Häuschen, verstreut auf einem Abhang, eine Farm, Kohlehaufen, eine Zisterne am Flussufer, der eine oder andere Steinbau – ein großes Dorf zwar, doch ohne jeden Sinn und Verstand, als sei der Teufel hier vorbeigekommen und habe Tabak aus seiner Tasche verstreut, und wo die Krümel hinfielen, da stehen heute, krumm und schief, Isbas, Zäune, Speicher.
    Es hieß hier übernachten, weil es über dem Fluss so finster geworden war, dass die
Sarja
ihre Fahrt unterbrechen musste, um nicht versehentlich mit einem Baumstamm zu kollidieren. Es war sechs Uhr am Abend. Ich betrat als Erster den Anleger, bahnte mir einen Weg durch die Neugierigen, für die die Ankunft der
Sarja
ein Ereignis war, und suchte, um eine Koje zu ergattern und nicht die Nacht im »Allgemeinen Saal« auf einem Stuhl zu verbringen, eilig nach der hiesigen Beschließerin. Sie gab mir eine Garnitur Wäsche und den Schlüssel für die Nr. 51. Ich stieg nach oben, klopfte an die Kajütentür: nichts. Klopfte lauter: kein Mensch. Versuchte aufzusperren: die Tür war nicht abgeschlossen. Ich gebe ihr einen Schubs, und sie öffnet sich sperrangelweit. Im Halbdunkel vor mir liegen zwei Leichen. Oder auch nicht … Es riecht nach einer strammen Fahne … Sie atmen … leben also. Haben sich bloß die Kante gegeben …
    Ich dachte: Sagst du der Deschurnaja, dass du mit Besoffenen nicht in einem Raum schlafen willst, kränkt sie das für die beiden. Sind schließlich auch Menschen. Kein Grund, sich für was Besseres zu halten.
    Also bin ich runtergegangen und habe gesagt: Da ist abgesperrt, und ich krieg die Tür nicht auf, und es ist keiner da, geben Sie mir doch ein anderes Bett …
    Sie gab mir eines in der Nachbarkajüte. Dort habe ich als Mitbewohner zwei von unserem Schiff, einen Fahrer, Walentin (aus der Trinkerzunft), und einen vielleicht zwanzigjährigen Burschen, Sascha, der mir schon aufgefallen war: Er hatte Frau und Kind dabei, und ich konnte die beiden noch so lang beobachten: die Frau musste bestimmt sechs, sieben Jahre älter sein als er. Er war ein schmächtiges Hemd, ein unauffälliges
Jüngelchen
in schwarzer Lederjacke. Sie dagegen war von der stattlichen Sorte, ein reifes Weib, in die sich alle vergafften und an die sie sich ranschmissen, als sie auf die Plattform kam: Wie sie heißt, woher sie kommt, was sie arbeitet …
    »Mich versorgt mein Mann …«
    Auf einen Schlag war alles verstummt, denn: Ihr Mann, das Jüngelchen da, so ein Kerl war der also so einer, weil, man sah ihr ja an, die
kostete
was und war nicht auf den Kopf gefallen und also ein viel zu schwerer Brocken für die meisten, aber er, ihr Kerl, der war wer …
    Wir machen uns rasch bekannt und stürmen unverzüglich los auf der Suche nach einem Geschäft: am Ende eines durchfasteten Tags haben wir gigantischen Hunger. Die Zeit hatte Schlagseite bekommen und hing, einsturzgefährdet wie ein Katakombengewölbe, vibrierend über unseren Köpfen: bis sechs oder bis sieben? Wenn bis sechs, dann waren wir schon zu spät dran … Wir rannten, was die Beine hergaben, unter unseren Füßen das Holzpflaster stöhnte. Das Geschäft am Hafen sah aus, als wäre es schon mindestens zwei Monate geschlossen. Wir jagten am Stadtsowjet, einem Doppelstockbau mit aufgepflanzter flatternder russländischer Fahne, vorbei und weiter zwischen grauen Isbas hindurch und an wackligen Zäunen entlang, hinter denen winzige Knirpse mit Gurken zu erkennen waren. Von weitem machten wir eine eisenbeschlagene Tür und ein offenstehendes Eisengitter aus, im Laufschritt treten wir ein …
    Leere Regale. Sprotten in Tomatensoße, in Salz eingelegte Wassermelonen, Portwein der Marke Agdam …
    Walentin kauft sofort eine Flasche.
    »Gibts Brot?«
    Eine dumme Frage – natürlich nicht.
    Dümmer wäre nur zu fragen, warum.
    Außer uns gab es noch einen Kunden im Laden, dessen Aussehen den Verdacht nahelegte, er habe noch nie in seinem Leben unter dem Dach einer menschlichen Behausung gelebt. In seinem struppigen Haar steckten Baumnadeln und allerlei Mulm, sein Gesicht sah aus wie mit Teer eingeschmiert, sein Bart war schütter, von der schmutzigen Kleidung ging ein starker Geruch nach Erde und Rauch aus … Zwischen seinen kräftigen braunen Pranken hielt er eine Flasche Portwein, die er von Zeit zu Zeit heftig schüttelte, als wolle er aus den aufwirbelnden Bläschen die

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