Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
paar Würfel Zucker. Sie hat schließlich auch den ganzen Tag nichts gegessen …«
Nacht. Walentin ist überm ausgetrunkenen Portwein eingeschlafen. Sascha, der glücklose Edelknabe seiner schönen Dame, ist vom Essen gewärmt ebenfalls in Schlaf gesunken. Auch ich sollte ein Auge zutun. Die Nacht wird kurz sein. Morgen bin ich, so Gott will, am Ausgangspunkt meiner Reise: Narjan-Mar. Denn sie hat ja noch immer nicht begonnen, auch wenn es mir so vorkommt, als ob ich schon lange unterwegs sei, vielleicht seit Jahren. Ich habe mein Zuhause vergessen, habe auch das Heimweh vergessen. Ich bin in ein Wirrwarr von Ereignissen geraten, über die ich keine Macht besitze. Der Lauf des Stroms hat mich ergriffen, wirbelt mich wie einen Span umher, und ich bin gezwungen, mich an Situationen und Reisegefährten zu klammern, denen ich in meiner Welt nie begegnet wäre. Habe ich irgendetwas gewonnen? Etwas von dem, was »Freiheit« genannt wird, ist, scheint mir, in mich eingesickert. Obwohl ich doch nicht weiß, was Freiheit ist. Vielleicht ist es die eine, einzige Wahl, bei der du dich hinterher als Mensch fühlst …
Gegen Abend des zweiten Reisetags umrundeten wir eine lange grüne Insel und bogen in einen der unzähligen seichten Seitenarme der Petschora ein, an dessen Ufern Narjan-Mar liegt. Ehrlich gesagt hatte ich mir meine Ankunft nicht so verdrießlich vorgestellt: Ich hatte trotz allem eine Stadt erwartet – aber da war keine. Vom Fluss aus sah man Holzstapel, ein paar Hafenkräne, die kohlegeschwärzte
MS Kolgujew
, den Typenbau des Anlegers, die Umzäunungen der Speicher und auf der hohen Sandböschung ein einzelnes Gebäude, wohl ein Verwaltungskasten …
Es regnete. Es war kalt. Irritiert lauschte ich dem Pochen der Tropfen auf den Eisenplanken des Anlegers. Ich blieb allein zurück, alle anderen Passagiere zerstreuten sich, ein Ziel vor Augen. Meine Bekannten – Walentin und Sascha »mit Frau und Kind« – kletterten auf die Ladefläche eines Dreiachsers, der einen von ihnen abholen gekommen war; sie verkrochen sich vor dem Regen unter einer Zeltplane und fuhren davon, ohne auch nur, wie es heißt, zum Abschiedsgruß die Hand zu heben.
Ich nahm meinen schweren Rucksack auf, trat hinüber auf den feuchten Sand und machte mich, einen kleinmütigen Fluch gen Himmel schickend, zwischen den regenschwarzen Speicherzäunen auf die Suche nach einem Hotel …
5 Hoch konzentrierter Tee – nicht selten so hoch konzentriert, dass er psychoaktive Wirkung entfaltet; ein beliebtes Narkotikum im Gulag. [Anm.d.Ü.]
6 Geißler; eine Sekte, die sich im 17. Jh. entwickelte. [Anm. d. Ü.]
7 Ahmad ibn Fadlān reiste 922 als Gesandtschaftssekretär von Bagdad zu den Wolgabulgaren und verfasste den im arabischen Raum umfangreichsten Bericht nicht nur über das Wolgagebiet, sondern auch über jene Landstriche, die von den Rus, den frühen Russen, besiedelt wurden, und über einige boreale Gegenden, von denen er allerdings nur vom Hörensagen wusste. Das Scheitern der Mission (einen zentralasiatischen Tribut von 4000 Dinar einzutreiben und – vielleicht damit einhergehend – die Wolgabulgaren zu »bekehren«) führte zu Intrigen gegen seine Person, wodurch sein Werk in Vergessenheit geriet und erst Jahrhunderte später in Buchara wiederentdeckt wurde, also in Zentralasien, wo Ibn-Fadlāns Schilderungen von akutem Interesse waren.
8 Gegen Ende der UdSSR und darüber hinaus wurden verschiedene Gesetze zur Umstrukturierung und Privatisierung der Kolchosen und Sowchosen erlassen. »Farm« ist eine der Bezeichnungen für die aus ihnen entstandenen Nachfolgeunternehmen, von denen einige, anders als intendiert, noch heute in staatlicher Hand sind. [Anm.d.Ü.]
Der Schütze und der Fliehende
Er (ich) nahm seinen schweren Rucksack auf, trat hinüber auf die feuchte Böschung und machte sich (mich) auf die Suche nach einem Hotel …
Am folgenden Morgen vergewisserte ich mich (er sich), dass das Ziel herangerückt war. Nicht dass die Insel näher gerückt wäre (ihre Umrisse blieben verschleiert; im Gespinst des Regens zeigten sich einstweilen nur Baracken, Gasleitungen, Holzschuppen, Wäscheleinen mit flatternden Unterhosen, sich paarende Hunde). Aber näher gerückt war der Rand der Welt. Finis terrae. Von dort brach bisweilen Wind herein. Eine Böe erwischte ihn, als er gerade geräuchertes Renfleisch mit grüner Paprika von einem Straßenverkaufsstand aß: Plötzlich schien im grauen Himmel über seinem Kopf etwas zu explodieren,
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