Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
Vom Netzwerk:
und wenn er nicht jetzt den Schritt machte, dieses Davonlaufen in noch etwas anderes zu verwandeln (und wenn es nur eine Erzählung wäre, nur ein Foto, nur eine kleine Feder, die er der Geliebten als Geschenk mitbrächte), so würde er künftig in den Labyrinthen seiner Niederlage umherirren, bis er sich zuletzt an sie gewöhnt hätte.
    Aber nein! In eine Niederlage willigte er nicht ein: Mochte er auch bislang keine Antworten wissen, so waren doch dafür viele neue drängende Fragen aufgetaucht. Er hatte wie selbstverständlich geglaubt, nach dem Sinn des Lebens zu fragen impliziere eine Antwort, doch plötzlich merkte er: Er wusste zwar keine Antwort, aber einen Sinn, einen vielleicht nur ihm allein teuren Sinn in Form dieser ungelösten Fragen – den gab es. Außerdem hatte er Glück. Die Stadt war klein und dementsprechend die Bekanntschaftskette kurz: Am zweiten Tag brachte man ihn mit Korepanow, dem zeitweiligen Inselvorsitzenden, zusammen. Sein pomorischer Name erinnerte an die russischen Wörter für Wurzel und Festigkeit:
koren
und
krepost
, was zu seinem unerschütterlichen Wesen wunderbar passte. Er war ein bedächtiger Mann Mitte vierzig, eher klein, aber sehr stark, und mit intensiven grauen Augen. Vollkommen ruhigen und zugleich durchdringenden Augen, die den Fliehenden, während er sprach, aufmerksam betrachteten, sich in ihn drillten wie ein Bohrer, mit dem der Bootsbauer die Materialqualität des ihm präsentierten Schiffskörpers studiert: den Kiel – das Rückgrat des Fliehenden, die Spanten – seine Rippen, Takelage und Wandung – seine Sehnen und Muskeln, aber vor allem den Motor – sein Herz. Aus pomorischer Sicht war die Konstruktion insgesamt etwas schwächlich, für die Sommermonate aber ausreichend. Was den Motor betraf … Der stotterte, verriet Unsicherheit und Angst; aber diese Empfindungen waren alles in allem verständlich, wichtiger war, das Prinzip zu begreifen: Welche Treibriemen treiben ihn an? Welche Wünsche bringen ihn in Schwung? Welche Energie verbrennt er?
    Eine Flasche Äthylalkohol, nach Geschmack des Hausherrn auf runde fünfzig Prozent verdünnt, kam auf den Tisch. Als sie halb leer war, begriff der Fliehende plötzlich, er hatte die Prüfung bestanden, obwohl die Insel Korepanow eindeutig teuer und ihr ehemaliger Vorsitzender nicht gewillt war, sie mit dem erstbesten Dahergelaufenen zu teilen. Zweifellos war Korepanow in den Augen seines Gegenübers ein besonderer schuldbewusst-verzweifelter Ausdruck, wie nur Fliehende ihn haben, nicht entgangen; aber bestimmt hatte er auch etwas gesagt oder getan, was Korepanow davon überzeugte, dass sein Überraschungsgast ungeachtet seiner schwächlichen Takelage vielleicht doch den Segen für die Ausführung seines seltsamen und von ihm selber wohl noch nicht verstandenen Plans verdient hatte. Ihr Gespräch war schon zu Ende, da entdeckte der Fliehende in den vom Boden bis zur Decke die Wände überziehenden Bücherregalen Rockwell Kents
Salamina
und noch einen ganzen Haufen weiterer ihm, wenn auch in anderer Ordnung, aus seinem eigenen Bücherschrank her vertrauter Titel – und erst da begreift er, dass der Mann, der ihn auf die Probe gestellt hat, wesentlich mehr verstehen kann, als er, der Fliehende, auf den ersten Blick geglaubt hat.
    Später, sehr viel später, sollte er begreifen, dass er nichts Besonderes gesagt oder getan hatte, sondern einfach wieder und wieder seine Absicht bekundet, unbedingt auf die Insel zu müssen; er kam von weit her, das war etwas Besonderes. Aber etwas Besonderes ist es auch, einen Menschen zu beobachten, der in den Strudel des Schicksals geraten und sich dessen nicht bewusst ist … Der Vorsitzende hatte ihn einfach nur beobachtet, während er Blödhammel geglaubt hatte, ihn für sich damit eingenommen zu haben, dass nie, niemals, auch nur ein Lokaljournalist einen Fuß auf die Insel gesetzt hatte, aber er …
    Korepanow hatte ihm Menschen genannt, bei denen er sich, egal um welche Bitte es ging, auf ihn berufen konnte, und hatte ihm Bücher geliehen. So erfuhr der Fliehende gut vierzig Stunden vor dem Abflug die Parole und erhielt die Schlüssel.
    Nachts im Hotel fotografierte er Bilder ab: Gesichter, dunkel wie altes Holz, und Zeichungen von Blauwalen, blumenübersäten Kuppen, Renen, Sonnen …, denen sein Schwarzweißfilm (einen anderen hatte er nicht) augenblicklich die Farbe entzog. Die Insel trat immer deutlicher aus den eng in Petitschrift gedruckten Zeilen des russischen Brockhaus

Weitere Kostenlose Bücher