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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Beschaffenheit dieses dunklen, süßen, schwachen, eines Mannes ganz unwürdigen Getränks ermitteln. Als Freund des Wodkas verabscheute er offenbar das Halbherzige des Weins, und fragte uns, leicht lispelnd, mehrmals:
    »Wie Tee, waß?«
    Auf dem Rückweg torkelte uns vor dem Geschäft plötzlich ein irrsinnig betrunkener vielleicht Siebzehnjähriger vor die Füße, mit bös verletzter rechter Braue, die eine Gesichtshälfte blutüberströmt, und auch das Hemd war, wo nicht vollgesogen mit frischem Blut, da zumindest bespritzt. Seine reglos-stieren Augen schienen uns nicht gesehen zu haben, aber irgendetwas, vielleicht unsere Schatten oder unsere Stimmen oder das Funkeln unserer Schnapsgläser, musste er wahrgenommen haben, denn er stellte sich uns in den Weg, und wie ein blindes Tier die ganze Zeit den Kopf hin und her pendelnd, versuchte er mit schwerer Zunge eine Bitte zu artikulieren:
    »Eh, Jungs, gebt mir …«
    Er wusste anscheinend selbst nicht, was.
    »Mir was zu trinken …«
    »Kumpel«, sagte ich. »Hier, rauch lieber eine, ist besser …«
    Mit betrunkenen Fingern klaubte er sich eine Papirossa aus der Packung, bedankte sich eilfertig und verschwand so urplötzlich wie er aufgetaucht war, stieräugig eine Straße hinabtorkelnd, immer in Gefahr zu stolpern und sich den Hals zu brechen. Wir alle sind in Gefahr, uns den Hals oder das Genick zu brechen (was bekanntlich nicht dasselbe ist).
    Es hat uns an einen bedrohlichen Ort und in eine bedrohliche Zeit verschlagen.
    Der bedrohliche Ort ist unser Land.
    Dieses Land, das über dem Rand des Abgrunds hängt wie ein wuchtiger LKW, den, einem echten Wunder gleich, ein zufällig unter eines seiner Räder geratenes Stück Holz davor zurückhält, in die Tiefe zu stürzen …
    Und alles, was vor sich geht, lässt sich nur verstehen, wenn man sich selbst als Insasse dieses auf der Grenze zu seinem Untergang balancierenden LKW begreift … Auch dieser Junge mit dem blutüberströmten, hilflosen, schrecklichen Gesicht kommt dort her. Er läuft auf der Schneide des Irrsinns, aus der Verzweiflung zur Hoffnung, aus dem Entsetzen zum hysterischen Gelächter, aus dem letzten Schrei zum letzten Seufzer … Es ist unwichtig, wer er ist: der Fahrer oder ein Freund des Fahrers oder einfach ein zufälliger Passagier, der fünf Minuten vor der Katastrophe in den Wagenkasten geklettert ist »bis zur nächsten Biegung«. Er versucht, vor der entsetzlichen Gefahr davonzulaufen, der Falle des Ortes oder der Falle der Zeit zu entkommen … Er will dir entkommen, verfluchtes Jahr 1992 …
    Auf dem Anleger bat ich die Deschurnaja um einen Elektrokocher, dann packte ich meinen Rucksack aus, holte meinen Pott, einen Henkeltopf, Kaffee, Zucker, chinesische Nudeln hervor und setzte ein Abendessen auf. In die Nudeln kippte ich drei Büchsen Sprotten aus dem Laden, was zwar eine widerwärtig anzusehende, aber doch halbwegs sättigende Pampe ergab.
    Walentin, auf sein Bett gefläzt und von Zeit zu Zeit die Flasche ansetzend, beobachtete wohlwollend meine Vorbereitungen.
    »Das Wichtigste ist was zu fressen«, verkündete er schließlich. »Wenn du im Norden nichts zu fressen hast, kneifst du den Arsch zu …«
    »Dann zu Tisch?«
    Er schüttelte den Kopf, schnippte mit dem Fingernagel an die Portweinflasche: »Ich brauch im Moment das hier …«
    »Sascha, dann hol du deine Frau …«
    »Meine was?« Sascha starrte mich mit großen Augen an.
    »Wie deine was? Na deine … Auf dem Dampfer …«
    »Die ist nicht meine Frau.«
    »Wer dann?« Die Nachricht konnte sogar einen Systemsäufer wie Walentin dazu veranlassen, sich aufzurichten.
    »Wir haben uns kennengelernt einfach, am Flughafen … wie wir Tickets versucht haben zu kriegen …«
    »Also nicht deine Frau?« Das belebte Walentin derart, dass Sascha und ich uns eine Geschichte anhören mussten, die einem ja vielleicht im Suff lustig vorkommen mag – wie in einer polaren Schneesturmnacht ein Kerl in einem Hauseingang eine Tussi vögelt, die ihm sagt, er soll mal das Licht ausmachen; tastet er also nach dem Schalter und greift in nackten Draht – und verpasst seiner Auserwählten via Schwanz eine 220-Volt-Ladung, dass die beiden auseinanderfliegen wie zwei Rattenjungen …
    Walentin fand das irgendwie außerordentlich komisch …
    Sascha sah sich aus Feigherzigkeit gezwungen, etwas wie ein verwegenes Grinsen aufzusetzen.
    Mich machte das wütend.
    »Weißt du was«, sagte ich. »Bring dieser …
Frau
… wenigstens einen Kaffee und ein

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