Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
hervor mit ihrer Umrisslinie, einer »unregelmäßigen Ellipse«, die von Flusstälern und einigen Hügelketten aus Sedimentgestein durchschnitten wird. Letztere, so der Brockhaus-Efron, seien »in geologischer Frühzeit aus der Arbeit eines ausgedehnten Stroms hervorgegangen, der höchstwahrscheinlich im Tal der Petschora floss, die somit sein Überbleibsel wäre …«
O Petschora, die du von Ewigkeit zu Ewigkeit fließt! Und unter düstrem Himmel seewärts eilst, deine Wogen über den Wassern des Urmeeres rollend, des sich verbergenden, salzigen, einst warmen Meeres, eines Meeres so schwarz wie der Morgen des Blinden, so zähfließend wie Erdöl. Hier ist der Boden bis hinab in tiefste Lagen wassergesättigt, und wenn du, Unglücklicher, der du über diese Wogen läufst, noch nicht begriffen hast, dass die Welt eine vielfach geschichtete Torte ist, dann vertief dich doch bitte in diese Sache, eh du beschließt, von der Torte zu kosten …
Wer erteilt hier wem eine Lektion? Spricht hier während des qualvollen Wartens im Hotelzimmer der Fliehende mit sich selber? Hat sich, von seinem dubiosen Recht Gebrauch machend, wann immer, auch zur Unzeit, im Text mitzumischen, der Autor eingeschaltet? Oder sind hier schon neue, bislang unbekannte Stimmen zu hören?
Der Schütze.
Der Schütze taucht unvermutet auf, als Figur eines weiteren, von Raum, Licht und Freude erfüllten Buchs. Ein junger Bogenschütze in Jägerkleidung, der auf eine Gans am Himmel zielt. Eine fließende Federzeichnung, deren Leichtigkeit und ausdrucksstarke Einfachheit unzweideutig auf ihre Entstehungszeit verweist: die frühen 1960er Jahre. Genau wie die schlichte, energische und leichtfüßige Sprache:
»… Übers Fallreep klettern wir hinunter auf die
Kolgujewez
, die beigedreht hat und an der dunklen feuchten Bordwand der
Juschar
liegt. Möwengeschrei.
Fracht wechselt von der Fähre in den Kahn: Säcke (bestimmt Mehl und Salz), Kisten, Fässer. Von der Insel sind Nenzen herübergekommen, ein Teil ist mit dem Löschen der Ladung befasst. Sie arbeiten schweigend. Ihre Fellkleidung ist, obwohl feucht, schön. Mit farbenfrohen Ornamenten.
Es ist sehr kalt …
Über dem grauen Meer ein blendend gelber, kalter Himmel.
Es ist zwei Uhr nachts.
Als die Fracht gelöscht ist, kommt einer auf uns zu und sagt:
›Dann wollen wir mal einen Tee trinken.‹
Das Häuschen steht näher am Landungssteg als die anderen, wahrscheinlich sind wir deshalb hier hereingebeten worden …«
Der Fliehende war nicht frei von Neidgefühl, aber zugleich erfüllte Hoffnung sein Herz. Seine Ahnungen hatten ihn nicht getäuscht: So, genau so hatte er sich das Ufer seiner Rettung vorgestellt: nach Meersalz, Sackleinen, Dieselöl, nassem Holz und feuchten Fellen riechend und (unbedingt!) mit Möwengeschrei über …
Ein Jahr, ein Jahr nur ist er zu spät: Die
Juschar
– jene gute alte
Juschar
, deren Route er seinerzeit in Archangelsk entdeckt hatte – wird nie mehr in nächtlicher Stille vor der Insel auf Reede gehen, und er selbst wird nie unter einem blendend gelben Himmel auf Deck stehen und hören, wie die Ketten aus den Klüsen rasseln und die schweren Anker ins eisige Wasser krachen und den Dampfer auf Sichtweite zu den gastfreundlichen kleinen Küstenhäusern stoppen …
Das Buch,
Die Insel Kolgujew
der beiden Künstler Ada Rybatschuk und Wladimir Melnitschenko, 10 atmete lebendige Erinnerung und kommende Begegnungen: Das, wovon es erzählte, konnte nicht untergegangen sein, noch lebten die Menschen, mit denen sie Tee getrunken hatten, auch sie selbst lebten noch und konnten also für ihre Worte bürgen …
Und wieder erfuhr er erst sehr viel später, dass Ada und Wolodja, die auf der Insel eine lebende Legende sind, lange vor Erscheinen ihres Buches dort hingingen, als sie noch keine Künstler waren, sondern einfach junge Leute, Studenten, die wegen ihrer Diplomarbeit hinfuhren, 1959/60, vor seiner Geburt,
vor Zeiten
. Sie hatten natürlich Glück: Sie trafen noch die Nomadenzeit an, die letzten Tage eines sich über ein Jahrhundert erstreckenden Nomadenlebens auf der Insel, hundert Jahre, hinter denen sich weitere Jahrhunderte abzeichneten, tausend Jahre unentwegter Bewegung des Menschen durch die grenzlosen Räume des Kontinents im Gefolge der Rene.
Als Ada und Wolodja für einen Winter auf die Insel gingen, hatten sich die ersten Tundrabewohner bereits in den festen Behausungen an der Küste niedergelassen, aber zwischen diesen sich in einer Reihe den
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