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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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und er fand sich in einem Strom reiner Kälte wieder. Sämtliche Wäscheleinen der Barackenstadt pfiffen wie Takelagen, es fehlte nicht viel und der Wind hätte ihm das Fleisch aus dem Mund gerissen. Um mit solcher Stärke anzugreifen, musste der Wind sich in grenzenlosen Räumen aufpeitschen können, wo kein Stückchen Erde vorspringt und sein Rasen behindert …
    Dort hin, jenseits des Randes – diese schäumende graubleierne Woge –, strömte die Petschora. Aber wenn am Anleger auch ein Fahrplan mit Verbindungen flussabwärts, via Kuja und Krasnoje, hing, so schenkte er dem keinen Glauben, denn seit ihn die
Sarja
in Narjan-Mar abgesetzt hatte, war ihm am feuchten Landungssteg kein Passagierschiff mehr begegnet …
    Im Wald hinter der Stadt entdeckte er riesige Sandkessel – Spuren von unvergleichlich stärkeren Windböen als jene, die ihn getroffen hatte; dann – Erinnerungszeichen an ein böses Omen – Spuren des vom Antlitz der Erde verschwundenen Städtchen Pustosjorsk: 9 ein paar morsche Balken, einige umgestürzte, wettergebleichte Grabkreuze; im Gras, zwischen windbewegten Steinbrechpolstern und bodenkriechenden Wildrosen, aus den Gräbern hervorgeblasene menschliche Knochen; Getön: ununterbrochenes Rauschen gezauster Lärchen und Fichten, Plätschern eines unruhigen Sees, das Getön der vom Wind wie ein Schiff hin und her geworfenen Welt. All das hätte ihn beinah aus dem Gleichgewicht gebracht. Was immer man sagen mag, aber dort, wo er herkam, war der Boden nicht derart wankend. Doch er hielt sich an der Zeile fest, und die Zeile hielt ihn, Wort fügte sich rettend an Wort, und so erfuhr er, dass er Worte kennt, die ihn zu retten vermögen.
    Die Moose waren von der Nebelnässe aufgequollen, die Stiefel durchweicht, im Hals brannte es, das Hotel blieb unverändert kalt, aber er hielt Nacht für Nacht durch, sich an die Wörter klammernd, von denen er Unmengen aufschreiben musste, um nicht die Angst in sich einzulassen:
    Lausiger Tag. Regen, Nebel. An solchen Tagen ziehen die Bewohner hier die dicken Vorhänge fester zu und vergraben sich in schläfrig-häuslicher Gemütlichkeit. Draußen sechs Grad plus. Vielleicht ist schon September? Oder sogar November? Während ich durch das Sandmeer vom Wald zurück zum Hotel stapfe, wieder das Gefühl, dass es unmöglich ist, sich von hier loszureißen: Es ist ein verzauberter Raum – er kann dich noch weiter hinaus stoßen, aber dich freilassen, zurück?
    Was hatte ich gleich noch hier finden wollen?
    Etwas, das sich mir im Wort erschließt:
Das
ist der Schlüssel für diese ganze Geschichte. Aber es wird mir schon gelingen, zu Wort und Sprache zu kommen. Für mich entspringt das Wort aus der Stofflichkeit der Welt, sehen, hören, mehr brauche ich nicht. Deshalb habe ich mich ja auch aufgemacht, um am Leib zu spüren, was später Wort wird. Ich würde gerne noch malen. Aber das ist verschüttet, fast tot … Wenn ich wieder malen könnte, wäre das bestimmt das glücklichste Omen in meinem Leben. Es würde heißen, mir wäre vergeben: Alle Sorgen wären mir genommen, die meine Seele beschweren, ob zu Recht oder Unrecht, und die wunderbare Gabe meiner Kinderjahre wäre mir zurückgegeben, die Gabe, stumm jene Begeisterung angesichts des Rätsels der Welt auszudrücken, die mich begleitete, solange ich mir keine Fragen stellte, auf die ich eine exakte sprachförmige Antwort erhalten wollte, und nach der ich, da ich sie nicht erhielt, selber zu suchen anfing, indem ich mühsam Wörter zusammenklaubte, wählerisch – und fast immer vergeblich – das Wort aufzuspüren versuchte, das ohne Abstrich genau so schön wie eine Farbe, genau so exakt wie eine Linie, genau so allesumfassend wie eine Zeichnung war … Das Wort hat etwas Quecksilbriges. Und daran lässt sich nichts ändern. Es ist unmöglich, sicher davon auszugehen, dass die Suche die Anstrengungen lohnt, aber nicht zu suchen ist auch unmöglich …
    Der innere Monolog landete unweigerlich immer bei der Frage nach Sinn und Zweck der ganzen Unternehmung, und der Gedanke umzukehren kam natürlich nicht nur einmal auf. Aber erstens spürte er, dass der Raum ihn tatsächlich nicht freigeben würde, und falls es ihm vergönnt sein sollte heimzukehren, so nur, wenn er dort gewesen wäre,
jenseits des Randes
. Zweitens war das Ticket für den Hubschrauber gekauft. Nun, und drittens war er sich natürlich bewusst, dass seine Flucht, diese jahrelange innere Flucht auf den Tagebuchseiten, sich schon zu lange hinzog,

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