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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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wem? (Beängstigender Gedanke.) Und in welche Worte sie einkleiden? Aber da leuchtete das Gesicht seines neuen Bekannten auf wie eine Sonne, die durch die Wolken bricht, etwas Zärtliches, Unbändiges, Kindliches erschien darauf, und mit einem Lächeln sagte er:
    »Ich bin aus Piter …«
    Aus Petersburg! Erst da begriff der Fliehende, wer sie beide waren: zwei Landsleute, die es ans Ende der Welt verschlagen hatte, zwei Großstadtbewohner!
    Zick-tickitack-zick … Klar, die Zeit muss nach dem Gusto des Hausherrn verstreichen, sie hier allzusehr an der Greenwich-Zeit auszurichten hat keinen Sinn; aber wer auf dieser Insel außer ihnen beiden weiß wohl, was dieses englische Städtchen darstellt und warum eigentlich die Zeitmessung auf diesem erbärmlichen Nullmeridian beginnt und nicht an dem Punkt im Raum, wo der Sonnenaufgang einen erreicht? Hier auf der Insel mutet der Verweis auf das Observatorium in Greenwich bizarr an – nicht aber dort: dort, wo Moskau und Petersburg nur zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, getrennt bloß durch sechs, sieben Stunden süßen Schlafwagenschlafs und fünfeinhalb Jahrhunderte einer schon ziemlich üblen Geschichte; aber eben doch verbunden … Durch drei weitere Jahrhunderte eben dieser Geschichte, drei Jahrhunderte, die gegenüber unserem Vaterland kaum weniger unbarmherzig waren und in denen weiß Gott allerlei diese beiden Städte verschwistert hat! Zwei Kinder der einen Mutter Heimat, die viel erduldet hat; miteinander verbunden wie Herz und Verstand, wie Sofja 12 und Peter, wie – wenn auch in der Negation – die Laune des großen Zaren mit dem launischen Projekt seiner Vorfahren, wie Radischtschews
Reise von Petersburg nach Moskau
mit Puschkins Reise in umgekehrter Richtung; verbunden durch ihr Gegeneinander und ihr von diesem Gegeneinander nicht zu trennendes Ineinander-Verliebtsein: zwei Großstädte, die sich über das wilde Gestrüpp aus Wäldern und Sümpfen erheben, zwei Fregatten, die zwischen Handelsschonern und dickleibigen Lastkähnen prunken …
    Wie schwer muss es für einen Außenstehenden sein, zu verstehen, warum Moskauer und Petersburger, wenn sie einander in der Taiga oder Tundra begegnen, sich wie Verwandte umarmen, die endlich einen Anlass zur Versöhnung gefunden haben: Endlich können sie reden! Reden in der Sprache ihrer gemeinsamen Kultur und ihrer gemeinsamen Schuld, dieser Schuld, die bewirkte, dass weder die in den drei Jahrhunderten entstandene Kultur im Allgemeinen noch die Literatur und die Philosophie im Besonderen, ja generell nichts, auch nicht das Leben der heiligen Asketen oder der Idealismus der ersten Pioniere und Schutzherren des Ostens und des Nordens, das »Volk« je so zu begeistern vermochten wie in den Jahren der Revolution die Exzesse des alkoholisierten Matrosenpöbels und die damals in den Gemütern herrschende Pogromstimmung.
    Über derlei zum Beispiel könnten sie, der Moskauer und der Petersburger, reden oder sogar schweigen, da sie
Mitbeteiligte
an dieser russischen Geschichte sind, nicht deren sie erleidende Geiseln wie die Bewohner der übrigen Räume und erst recht jedenfalls dieser abgelegenen Küste, denn was gäbe es hier schon groß zu erinnern?
    Wie berühmte Seefahrer, die über das Segelwerk ihrer Schiffe philosophieren, können sie über den Wert der ägyptischen Sammlungen in der Eremitage beziehungsweise im Puschkin-Museum spekulieren, können über das Symphonische von Petersburg und das Literarische von Moskau reden, über die Besonderheiten des Moskauer wie des Petersburger Genies, über den Luxus der beiden Jeliseischen Geschäfte, hie auf dem Newski, dort auf der Twerskaja, oder über die Erotik der Karyatiden auf den Fassaden – es verstünde sie doch niemand, da Gespräche über die Takelage großer Schiffe einem Kahnführer oder Fährmann unzugänglich sind.
    Genau das geschieht auch: Einen Augenblick lang unterhalten sich der Fliehende und der Funkstationschef im Genuss
einander zu verstehen
, doch dann holen die aus dem Radio kommenden Zeitzeichen sie in die Wirklichkeit zurück, in diese Kajüte mit den undurchsichtigen Fenstern, die unmittelbar auf die Driftrichtung der Insel hinausgehen. Nur sie beide, sie allein, sind in der Lage, die Prinzipien, die Geschehnisse zu Geschichte zusammenschließen, zu erfassen; und die Steine der Isaak- und der Basilius-Kathedrale sind hier in diesem von trunkenen Stürmen zuschanden gerichteten, an der Küste verrottenden Dorf, wo nichts sie bezeugt, nur

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