Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
nicht nach Gesetzen verlieren, die das Böse ihm anbot.
Er war in eine Falle geraten und wusste nicht, wie hinausgelangen. Vielleicht hätte er wirklich keinen Ausweg gefunden, wenn er den Kelch der Verzweiflung nicht bis auf den Grund geleert hätte. Denn er begegnete dem Schützen.
Es war gegen fünf Uhr abends, als er ins Dorf zurückkehrte. Der Sturm, der tagsüber in ihm getobt hatte, hatte sich spurlos gelegt. Das Tankerbeiboot war vom Ufer verschwunden, der Matrosenwodka ausverkauft und folglich geleert, und alle, die ihn in gebührendem Maße zu sich genommen hatten, lagen bis zum Abstieg in die Hölle beim morgendlichen Erwachen in paradiesischfriedlichem Schlaf. Er folgte der vollkommen leeren Straße dem Meer entlang, als er neben einer riesigen Satellitenantenne, einer auf einen Sockel montierten Fünf-Meter-Schüssel in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Typenbaracke, einen Mann erblickte, mit dem er auf der Stelle reden wollte. Das gebräunte, runde, von einem Seemannsbart gerahmte Gesicht war nicht nur klug und gut, sondern bewahrte auf betonte Weise – das war ihm, der sich mit Gesichtern auskannte, gleich klar! – etwas von der Eigenart der Gesichter von
dort
, etwas Gewohntes, beinah intim Vertrautes, das schwer zu fassen war. Bekleidet war der Mann wie fast alle hier im Dorf mit einer Wattejacke, allerdings keiner schwarzen, sondern einer blauen, auf dem Kopf jedoch trug er eine Baskenmütze, die kunstvoll ein paar graue Strähnen verbarg, und zwischen den Lippen hielt er eine Pfeife – ein zweifellos nicht minder bedeutsames Zeichen wie für einen Dorfsowjetvorsitzenden der Anzug.
Der Fliehende ging zu ihm hinüber und stellte sich höflich vor.
Der Mann stand, die Katze, die auf seiner Schulter gesessen war, zum Abschied streichelnd, auf und sagte mit einer Geste zu Baracke und Antenne hin:
»Ich bin der Herr über dies hier …«
»Und was ist das hier?«
»Die Satellitenkommunikation für das Nachrichten- und Fernmeldewesen.«
»Kommunikation … Kann man bei Ihnen ein Telegramm aufgeben?«
»Nur bei mir hier …«
Ein Wort ergibt das andere, und schon sind sie im Innern der Baracke; im Flur ist es finster und schmutzig, er tritt in eine Schüssel voller Kippen …
»Entschuldigung …«
»Ich muss mich entschuldigen …«
… Aber dafür ist das Zimmer warm, luxuriös warm, erlesen warm; erst jetzt merkt der Fliehende, dass er bis auf die Knochen durchfroren ist und die Wärme ihn, kaum dass er sitzt, benommen macht wie einen Betrunkenen, der Kopf sinkt vornüber, die Augen fallen zu, er ist außerstande zu reden, lächelt nur und schaut, schaut, und sammelt im Körper Wärme. Ein gesundes, trockenes, ein Halbwüstenklima; die aufs Meer hinausgehenden Fenster haben vom Tabakrauch einen Perlmuttglanz und sind so gut wie undurchsichtig: Ob draußen Tag oder Nacht ist, lässt sich noch erkennen und dementsprechend mitunter wohl auch die Uhrzeit. An hellen Tagen fällt das Sonnenlicht mittags um zwei genau auf eine Uhr mit zerbrochenem Anker, die jemand zur Reparatur vorbeigebracht hat. Ticktack, ticktack: überall diese trockenen Geräusche der vergehenden Zeit. Wie das Schlagen, träge Zirpen, monotone Knistern von hart aneinanderreibenden Flügeln irgendwelcher Wüsteninsekten, die sich im Gras verstecken … Das heißt, natürlich, ja … Er ist eingenickt. Die sich, mit anderen Worten, zwischen der unvorstellbaren Menge von Gegenständen hier in der Kajüte verstecken. Kajüte – das ist das richtige Wort, da die Insel driftet, die ganze Insel insgesamt; mit einer Geschwindigkeit von zwanzig – waren es nun Zentimeter oder Meter im Jahr? Und eines Tages, versteht sich … Es sind also eher Hausinsekten oder sogar Hausvögel, die sich da auf dem Tisch, auf der Fensterbank, hinterm Oszillographen, zwischen zerlegten Fernseh- und Radiogeräten niedergelassen haben. Ticktick, zickzick oder komplexer: tickitack-tickitack. Oder: zick-tickitack-zick … Selbst die gut domestizierten Uhren laufen natürlich in alle Richtungen auseinander, erpicht darauf, dem Weltgebäude ihren Rhythmus aufzuzwingen, auch wenn sie zweimal die Woche ihren Gang nach dem Signal der universellen Zeit ausrichten.
»Und das Telegramm«, erklang mit einemmal die Stimme des Hausherrn, »das soll wohin gehen?«
»Nach Moskau.«
Kaum hatte er »nach Moskau« gesagt, spürte er, wie unnatürlich das klang. Denn es gab kein Moskau – was er schon lange gespürt hatte. Wohin also seine Grüße schicken? Und
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