Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
augenblicklich ging das Licht aus. Da stand er auf, zog Jacke und Mütze an, verstaute in seinen Taschen Messer, Streichhölzer und Zigaretten, schloss die Tür zu seinem Zimmer ab und verließ das Hotel. Er ging, damit er niemandem unter die Augen kam, sofort zum Meer – bestimmt eine unnötige Vorsichtsmaßnahme: das Dorf schlief. Er war allein, vollkommen allein am Strand. Die Tide lief schon wieder ab und gab die am Ufer ausgelegten Schollennetze frei, in deren Maschen sich Seetang verfangen hatte. Über dem Meer leuchtete still der Mond. In seinem Schein wirkte der graue Sand unter den Füßen bläulich, und er trat vorsichtig auf, als fürchte er, die Tagesgeräusche zu wecken und die brüchige Nachtstille aufzustören.
Er schlug die Richtung zum Fluss ein, wo er noch nicht gewesen war. Oben auf der Steilküste hinterm Dorf sah er vor der tiefen, doch transparenten Dunkelbläue des Himmels Grabkreuze und, kaum daran vorbei, im Sand das Gerippe einer hölzernen Karbasse, oder eigentlich nur den starken hölzernen, sich wie die Wirbelsäule eines an Land gespülten Wals krümmenden Kiel. Unter einem leisen Lüftchen blitzten Grashalme messerklingengleich auf. Das Steilufer trat wenig später zurück und er fand sich auf einer langen niedrigen Sandzunge wieder, am Ausgang eines von dunklen Hügeln gesäumten Tals, aus dem wie zähflüssiges Zinn der Fluss hervorströmte, dem Meer zu. Die See war plan, wie Eis, und nur in der Ferne, in der stockblauen Finsternis der Nacht, erklang das dumpfe Anschlagen der Brandung gegen die Sandbänke.
Eine unglaubliche Ruhe ging von dieser Landschaft aus. Er folgte dem Fluss eine Weile inseleinwärts, und als das Ufer steil wurde, kletterte er auf der Suche nach Schutz vor dem kalten, durch das Tal fegenden Wind den Hang hinauf. Hier gab es einige Kuhlen, vielleicht Überreste von Erdhütten oder Schützengräben; er ließ sich in eine gleiten und steckte sich eine Zigarette an. So saß er lange, eine um die andere rauchend. Nach und nach wurde der Himmel heller: Ins dunkle Nachtblau sickerte von Norden her das reine gelbe Licht der aufsteigenden Sonne ein. In diesem Licht trat die sich weit in die Ferne erstreckende ebene Tundra immer deutlicher hervor, an deren äußerster Grenze als ungleichmäßiges graues Zickzack die fernen Berge starr vor dem Horizont standen. Dort musste er hin. Dorthin, koste es, was es wolle: Dort pulsierte das Herz der Insel, dort erwartete ihn vielleicht seine eigene Legende.
Eine heftige Kälte verkündete, dass ein neuer Tag angebrochen war. Er sah auf die Uhr: es war zwei.
Er fühlte, wie beim Anblick der Urelemente, die hier zusammenkamen – der dunkelbraunen Erde, des auflodernden Himmels und des Wassers, das die Farbpalette des Himmels, erneut einem riesigen Zaubermärchenspiegel gleich, als ein bizarres Geflecht von Gelb und Blau zurückwarf –, ein eigentümliches Gefühl in ihm aufstieg. Vielleicht lag es an der extremen Erschöpfung, die ihn zuletzt überkommen hatte, vielleicht aber waren die Farben dieser Mondnacht am Ende der Welt tatsächlich einzigartig – jedenfalls spürte er mit einemmal, dass er des Hohen Nordens innewurde, jenes Hohen Nordens, den er nie gesehen, nach dem er sich aber unablässig gesehnt hatte … Hätte er Rockwell Kents
Salamina
dabeigehabt, er hätte sich nicht beherrschen können, das Buch auf einen abgesplitterten flachen Sandstein wie auf einen Altar zu legen und die inspirierte Hymne zu lesen, von deren dunklen, glückvollen und bedrohlichen Worten seine Seele widerhallte: »Herr, ich
liebe
diese fruchtlose Erde?«
Vor ihm lag eine Welt ohne Grenzen. Die Welt der Legende. Die Welt der Kunst. Die Welt der Freiheit.
Die Freiheit bedarf so wenig einer Definition wie die Liebe. Und bedeutet ebenso viel. Es ist eine Forderung der Natur, eine Forderung des Triebs, des Satzes, will heißen – des Sprungs: Du springst, du fasst einen Entschluss, und es ist dir egal, ob die anderen seine Notwendigkeit begreifen. Du überwindest alle Ängste, und im Grunde hat alles Weitere bereits keine Bedeutung mehr: ob du Schiffbruch erleidest oder nicht, ob du richtig oder falsch gehandelt hast. Weil du – eben dieses im Leben höchst seltene eine Mal – alle Befürchtungen verworfen und gehandelt hast. Das nämlich bedeutet Freiheit …
Bis auf die Knochen durchfroren machte er sich, in seine Jacke eingemummt, auf den Rückweg, man konnte jetzt schon Spuren im Sand unterscheiden, die des spielvergessenen Windes und
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