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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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ihre, des Fliehenden und des Funkstationschefs, beiderseitige Erinnerung.
    Im Übrigen sind sie, stellt sich heraus, zu dritt. Der Fliehende hat einen kleinen Mann nicht gleich bemerkt, der in einer Ecke an einem Tisch sitzt und über dessen Kopf (mit blauer tschechischer Schirmmütze) eine Kolophoniumwolke schwebt und ein seichtes Liedchen aus einem Radiogerät plätschert, das Teil einer graumetallen verkleideten gigantischen Apparatur ist: eine Funkstation der 1960er Jahre, die unermüdlich Signale über die große Südwärts-Drift der Insel in den Raum sendet und entsprechende Antwortsignale empfängt.
    »Schreiben Sie uns: ›Moskau,
Limpopo
‹ «, verkündet das Radio, und da begreift der Fliehende endgültig, dass es Erinnerung gibt, aber kein Moskau. Und es dieses auch nicht geben kann.
    Anscheinend kommt das auch dem Stationschef in den Sinn, der seine Pfeife aufgeraucht hat und sich wieder an einer Uhr zu schaffen macht. Tack-zickitack-ticki … Gut domestizierte Uhren sind wirklich wie Papageien oder Zeisige: Sie weben und weben an einer unwiederholbaren Melodie, obwohl es so scheint, als sagten sie immer ein und dasselbe. Aber das stimmt nicht. Drei, sogar zwei Stunden genügen, um …
    »Ich bin der Schütze, den die Ada gemalt hat«, wagt das Männchen in der Ecke einen Vorstoß ins Gespräch der beiden Seefahrer, »da war ich in der dritten Klasse.«
    »Der Schütze?!«
    Er ist nicht gerade groß, sogar klein, kann man sagen, so, wie ein Zwölfjähriger ungefähr. Philipp Wassiljewitsch Soboljew, Stellvertreter von Michajlytsch, also dem Stationschef. Er versendet die Telegramme und sorgt für die reguläre Verbindung mit dem Festland. Seine Stimme ist über Hunderte von Kilometern zu hören, wenn er zu funken beginnt:
    »Hier Alpha.
    Hier Alpha.
    Wie hören Sie mich?
    Also, eins …
    Also, zwei …
    Also, drei …«
    Dieses »also« verrät ihn immer. Er braucht nur einen kleinen zu heben – und natürlich hat er das auch heute –, schon taucht es auf, alle kennen es längst: »Also, eins …« Er ist vierzig Jahre alt. Und was er sagt, ist nicht gelogen.
    Bei einer Gitane, die der Fotograf ihm angeboten hat, sagt er, er bringt ihn zu der Frau, bei der Ada und Wolodja gewohnt haben, die sich noch immer mit ihnen schreibt …
    Eine Baracke im Innern des Dorfes. Eine alte Frau. Sie lehnt mit dem Rücken im Rahmen der offenen Tür und schaut bewegungslos in die Tiefe eines dunklen Raums. Dort steht ein Fernseher. Die Geräuschkulisse einer Serie ist zu hören.
    »Schau mal«, sagt Philipp Wassiljewitsch und schiebt mit einem glücklichen Lächeln den Fotografen vor wie einen edlen Gast. »Hab ihm gesagt, Nina Petrowna, dass du … Du könntest ihm was über Ada und Wolodja erzählen …«
    Ohne den Kopf umzuwenden, stiert die alte Frau eine ganze Weile weiter ins Dunkle, dann wirft sie einen, einen einzigen Blick auf den Ankömmling:
    »Erzählen? Was denn? Hat er keine Ahnung?«
    Philipp Wassiljewitsch lächelt schuldbewusst, lädt den Fotografen zu sich ein, da »gibts ein Tröpfchen« – Zeichen allergrößter Wohlgesonnenheit. Als der Fotograf ihn endlich überzeugt hat, diese nicht unnötig zu verausgaben, lächelt Philipp Wassiljewitsch noch einmal entschuldigend:
    »Die erzählt schon noch … Die Weiber, die gucken halt alle .. den Kinokram …«
    Sie gehen auseinander. Am besten macht er erst mal eine Runde durchs Dorf, damit er zu sich kommt und begreift, wer er ist, Teufel noch mal: Fliehender oder Fotograf, oder eine Zweidecker-Fregatte, die beim Ansteuern der Insel idiotischerweise alle Segel gesetzt hat und deshalb mit Brimborium auf Sand aufgelaufen ist, als hätte sie das komplizierteste taktische Manöver durchgeführt? Schon ein seltsames Völkchen hier. Die Alte, zum Beispiel, er hat förmlich in ihren Augen lesen können: Willst mir was über Ada und Wolodja aus der Nase ziehen, willst, dass ich sie abgebe, und du dann deine Lügengeschichten dazuflicken kannst und alles schön vernähen und das gute Fell verkaufen?
    Eine störrische Alte, muss man schon sagen. Aber woher soll sie wissen, dass er kein Dieb ist? Muss sie ja nicht wissen. Ist sogar ihr gutes Recht. Aber wie soll ers ihr erklären? Wie erklärt man sowas? Die Insel driftet, nichts bleibt unverändert, alles wandelt sich in Trickfilmgeschwindigkeit. Beispielweise: Da existiert ein Mensch als Entwurf. Als der Entwurf eines Künstlers oder des Schöpfers, dem wir wie auch dieser Mensch zu glauben oder nicht zu glauben

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