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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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es zur Armutszone werden, es wuchern und wie sich zersetzendes Fleisch zerfließen zu lassen? Wo ist die Faktorei, Ada? Wo ist das seetüchtige Rettungsboot? Wo sind die Rene, die Schlitten, die Spiele, das sorglose Lachen, die Lieder? Sag, ist all das, worüber du geschrieben hast, nicht wahr? Sei ehrlich, Ada! Oder hat sich in drei Jahrzehnten alles dermaßen verändert, dass man deinen Worten einfach nicht zu glauben vermag?
    Beklommen ging er durchs Dorf. Es fing wieder zu regnen an. Mit einemmal spürte er mehr, als dass er hörte, wie auf dem Holzpflaster das Vibrato unsicherer leichter Schritte näherkam. Er drehte sich um und sah weit hinten zwei Frauengestalten. Er beschleunigte kaum merklich den Schritt, das Vibrato blieb zurück. Die Hoteltür ließ sich nicht verschließen (nur die Zimmertür), und kaum hatte er in der Küche Wasser für Nudeln mit Büchsenfleisch aufgesetzt, um endlich etwas zu essen, da hallten dieselben Schritte – leichte, fast schleichende – im Korridor wider. Die Frauen blieben auf der Türschwelle stehen. Die eine wohl um die dreißig und mit verbundenem Ohr, die andere älter.
    Langes Schweigen. Dann sagt die ältere mit zornigem Lamento:
    »Junger Mann, gib uns ein Gläschen.«
    »Hab ich nicht, nicht mal einen Tropfen. Nicht mal Rasierwasser …«
    Stumm sehen sie ihn an. Die jüngere begreift, dass sie bei ihm kein Glück haben. Bittet um ein Glas Wasser. Trinkt gierig die unabgekochte gelbe Brühe, die er tagsüber aus dem Moor heraufgepumpt hat.
    Die ältere gibt die Hoffnung noch nicht auf, ächzt:
    »Wir haben Lachs, Lachs …«
    Alles ging den Bach hinunter.
    Er aß, und um nicht an der eigenen Verzweiflung und dem Mitleid für diese Menschen zu ersticken, griff er nach seinem Tagebuch. Ein dickes graues Heft, schon halb vollgeschrieben: Er hatte gar zu lang gebraucht, um es hierher zu schaffen, und einen gar zu hohen Preis bezahlt, um auf alles zu pfeifen und – da er im Moment ja nicht wegkam – stumpfsinnig auf den Hubschrauber zu warten im Gefühl, dass sein Traum ihn betrogen hatte. Darin wäre etwas über alle Maße Gemeines …
    Nein. Die Alte hatte Recht, und in ihrer Missachtung, die schon an Verachtung grenzte, steckte durchaus etwas Wahres: Wenn du schon hergekommen bist auf die Insel, dann versuch selber etwas zu finden: Es führt zu nichts, Brocken von fremder Leute Tisch zu schnappen, die Nase in die Vergangenheit anderer zu stecken …
    … Ada und Wolodja haben etwas Großes vollbracht: Sie haben einen Mythos geschaffen. Du bist ihm nun mal auf den Leim gegangen, und so bleibt dir nichts anderes übrig, als deinen eigenen zu schaffen. Du hast nämlich keine Wahl. Du hast angebissen? Hast du. Der Schreck ist vorbei. In Gedanken hast du diese Insel schon in Koordinatensystemen verzeichnet, hast sie im
Larousse du 20ème siècle
schon in die Lücke zwischen dem kleinen Planeten Kolga 191 und dem indischen Fürstenstaat Kolhapur platziert … Die Insel setzt sich für dich aus disparaten Dingen zusammen: aus Adas Buch und dem mit den nenzischen Kinderzeichnungen, aus geknüpften Bekanntschaften, durchlebten Ängsten und jenen flüchtigen Wahrheitsmomenten, da die Sonne über dem Meer hervorflammt und es scheint, als tauche aus den Tiefen ein riesiger Spiegel empor …
    Gut, für einen Mythos ist das noch etwas wenig, aber genug, um mit der Flucht Schluss zu machen. Denn dieses Davonlaufen ins Nirgendwohin ist für ein gewöhnliches gespaltenes Bewusstsein eine Gabelung, der unendlich auseinanderlaufende Weg, der in jedem Fall in der Sackgasse endet
.
    Der Mythos bedeutet Freiheit, Ausdrucksfülle, Ganzheitlichkeit. Sinnerfülltheit
.
    Probier das hier zu finden, auf dieser Müllhalde menschlicher Schicksale, probier etwas von Wert da zu erringen, wo auf den ersten Blick alles nur Widerwillen einflößt … Hat es Ada denn nicht vermocht? Sie hat es vermocht. Und Korepanow auch: diese Insel trotz allem zu lieben. Und wie es aussieht, ist die Liebe auch für dich die einzige Chance, vielleicht begreifst du, der Fliehende, das ja besser als andere …
    Anscheinend beruhigte ihn allein das Aufschreiben der Worte. Als er damit fertig war und die Kladde zugeschlagen hatte, warf er einen Blick aus dem Küchenfenster: Im bläulichen Dämmer der Nacht mutete das Gras unterm Fenster schwarz an, nur die Gänseblümchen, winzige Sternchen, funkelten darin.
    Um Mitternacht hörte er plötzlich das vertraute Brummen des Dieselmotors in der Ferne verstummen. Und

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