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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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die des ablaufenden Wassers. Diese Spuren, diese Muster kamen ihm bedeutungsvoll wie unverständliche uralte Schriftzeichen vor. Aber sind sie denn nicht unermüdlich von den ältesten Bildhauern geschaffen worden, die den Sand mit feinstem Filigran überspannen – anscheinend bloß, um wenige Stunden später das Geschaffene mit einer auflaufenden Welle auszuwischen und die Arbeit von vorn zu beginnen, dabei spielerisch voreinander mit dem eigenen Können prahlend?
    Todmüde und rundum glücklich kam er ins Hotel zurück.
    Am Morgen darauf wusste das ganze Dorf, dass jemand Fremdes aus Moskau da ist und alle nach Ada und Wolodja fragt. Der oder jener hätte ihm schon seine Erinnerungen anvertraut, aber als sie nach ihm Ausschau hielten, da war er weg.
    Jemand wollte gesehen haben, wie er Brot und Holz in ein Geländefahrzeug gepackt hat und raus in die Tundra zu den Renzüchtern ist. Und tatsächlich, nach drei Tagen kam er wieder, hockte auf dem Dach des Geländefahrzeugs zusammen mit den Kindern von Jegor, dem Brigadier, die nach dem Sommer draußen in der Tundra zurück ins Dorf kamen, um ein paar Tage später mit dem Extraflug nach Narjan-Mar ins Internat gebracht zu werden. Am selben Abend ist er noch betrunken mit Michajlytsch gesehen worden, dem Chef von der Satellitenkommunikation. Sein Sprit soll gut gewesen sein, nach Michajlytsch, aber stark nach Gummikorken geschmeckt haben.
    Weiter ist von dem Fliehenden nichts bekannt.
    Nicht bekannt ist, wozu er in die Tundra fuhr und was dort vor sich gegangen ist. Dort wurde gerade auf Hochtouren gearbeitet, eine Menge Jungs, eine Menge Rentierblut. Da kann alles Mögliche passiert sein.
    In der Lade des leeren Tischs im verlassenen Hotelzimmer fand sich ein Blatt Papier mit unverständlichen Aufzeichnungen.
    …
Ich habe den Schützen gefunden. Den echten Schützen
.
    Alik, 25, der geborene Kämpfer einer Spezialeinheit. Die Armee war die eindrucksvollste Zeit seines Lebens. Die Ereignisse der letzten Jahre, die er in Alma-Ata erlebt hat, haben seiner natürlichen Aggressivität etwas zwischen lieber Erinnerung und Traumgesicht verliehen: »drauf auf die Kasachen …«, »drauf auf die Studenten …«, »drauf aufs Weiße Haus …« Wo ich ja war, im August 1991, während des Putschs. Sprich, wäre es so weit gekommen, hätte er auf mich geschossen
.
    Wenn ich daran denke, wenn ich an das Gegensatzpaar Schütze/ Fliehender denke und daran, wie ihr Aufeinandertreffen (das Aufeinandertreffen von Schütze und Papiersoldat) hätte ausgehen können, so wird mir klar: höchstwahrscheinlich mit dem Tod. Aber mir fehlt die Kraft, den Gedanken zu Ende zu denken. Für Moskauer Gedanken fehlen mir hier die Kräfte. Sie schlummern ein in dieser geologischen Ruhe. Sie werden überflüssig. Wer die früheren Gedanken für immer ablegt, der wird zum Inselbewohner. So einer ist Wiktor Michajlowitsch, der Chef der Funkstation, so einer ist, den Erzählungen nach, auch der Chef vom Sewerny-Leuchtturm, Kossowski, der sein Moldawien für immer vergessen hat, und auch Rubzow ist so einer, der Chef vom Geologen-Hubschrauberlandeplatz an der Pestschanka. Der hat Frau und Kinder aufs Festland zurückgeschickt, ist selber aber geblieben. Da will einer in seinem Wohnwägelchen liegen, auf den Hubschrauber warten. Hören, wie hinter der Wand bald Sand, bald Schnee einherfegt, den Funk abhören, ein paar Worte wechseln: »He, Tobseda, wie stehts bei euch? Sind die Hechte da? Und Helikopter keiner? Ja, ist kein Wetter … Bei uns sind die Gänse da … Die Gänse, sag ich …« Und er trinkt nicht. Liegt einfach nur da. Eine Woche kann er so auf dem Bett liegen, wie der unvergessliche Oblomow, Tee trinken, an Zuckerstückchen knabbern und sich über nichts aufregen …
    Aber die Zugereisten sind, wenn nicht Hiesige unter Hiesigen geworden, so zumindest längst mit der Landschaft hier vertraut, Teil der Natur. Der Fliehende dagegen – er ist fremd an diesem Ort. Allem fremd
.
    Ich erinnere mich, ich habe Alik gefragt: »Und du, wenn du in der Tundra unterwegs bist, rauchst du da?«
    »Unbedingt: dann bin ich böser …«
    Böser – obwohl er gar nicht böse ist. Der Tod springt hervor aus einer Lappalie, aus einer zufälligen, nichtigen Verärgerung des Schützen: darüber, wie der Fliehende sich schnäuzt, Angst vor einer Erkältung hat, irgendwelche Tabletten lutscht
, sich schont…
    Schont sich, der schnieke Moskauer, dort, wo andere sich systematisch zugrunde richten, bloß, damit das

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