Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
abfeuern oder nicht? Hat er eine Chance oder nicht? Ist er selbst (der Fliehende) wirklich oder nicht? Er muss dem Schützen etwas sagen, damit der ihm glaubt. Mechanisch gräbt er weiter eine Rosenwurzstaude aus. Der Schütze bemerkt seine sich bewegenden Hände:
»Ist das alles, was du von hier mitnehmen willst?«
»Nein«, sagt der Fliehende mit letzter verzweifelter Ehrlichkeit. »Ich habe meiner Liebsten versprochen, ihr die
Blauen Berge
mitzubringen, aber dorthin schaffe ich es wohl nie …«
Er fährt fort, mit dem Messer den Boden um einen Wurzelstock herum aufzuwühlen, da biegt sich plötzlich die Klinge durch, als sei sie auf einen Stein gestoßen, aber der war dort nicht im lockeren Sand, garantiert nicht …
»Sieh nur«, wendet er sich verblüfft an den Schützen. »Das ist mein solidestes Messer. Und es hat sich durchgebogen wie ein Stück Blech …«
»Ja«, sagt der Schütze, als habe er das verbogene Messer nicht bemerkt. »Bis dorthin sinds zwei Tagesmärsche. Ohne Gepäck kann mans auch in einem schaffen.«
»Kannst du mich begleiten?«
»Heute?«
»Nein, morgen fliege ich.«
»Dann musst du nächstes Jahr wiederkommen.«
»Ja, muss ich.«
»Du sagst jetzt alles Mögliche, um von hier wegzukommen.«
Der Fliehende schweigt. Am Boden sitzend, glättet er mit beiden Händen den Sand um die Pflanze herum, die er hatte ausgraben wollen.
Der Schütze greift sich das Messer, betrachtet es verwundert. »Ja«, sagt er plötzlich. »Jetzt glaube ich, dass du nicht lügst. Du wirst wiederkommen … Die Insel will dir keinen Kleinkram anvertrauen, sondern offensichtlich Großes …«
»Wie?«, fragt der Fliehende, »wovon redest du?«
»Die Insel wartet schon lange auf einen Auserwählten. Sie wartet auf einen Menschen, der von ihr erzählt. Anfangs dachte ich, du bist derjenige. Dann war ich der Meinung, du bist ein Lügner. Jetzt glaube ich, du bist es doch.«
Bei diesen Worten nimmt er das Gewehr von der Schulter und spannt den Hahn.
»Weswegen?«
»Sieh genau hin«, warnt ihn der Schütze.
Der Fliehende sah, dass der Gewehrlauf direkt auf seine Brust gerichtet war, direkt auf sein Herz. Dann sah er einen feinen Feuerstrahl, der auf ihn zukam, und verspürte einen stechenden, nadelstichartigen Schmerz in der Brust, und im selben Moment begann vor seinen Augen der Raum – die ganze gleichförmige bültenreiche Ebene mit den gezackten Blauen Bergen am Horizont – zu zittern, schrumpfte, wurde rissig, wie eine Glasplattenaufnahme unterm Feuerstrahl eines Bunsenbrenners, und tatsächlich: Plötzlich sah er ein Loch, durch das am Anfang nur etwas Graues zu erkennen war, aber dann erkannte er plötzlich ein Schiff, das sich vorsichtig der Insel näherte, ein kleines Schiff unter britischer Flagge vom herrlichen Kaffeebraun des Rens und des mit einem Schrei über den Himmel schwebenden Falken, und ein menschliches Gesicht, das ihm unerhört nahegekommen war, faltenübersät, baumrindenhaft …
Als er die Augen aufschlug, sah er den Schützen, der in der Linken sein Herz hält und in der Rechten sein verbogenes, ganz krummes Messer. Damit klaubte der Schütze irgendwelche dunklen Fäden ab, die Büscheln feinen braunen Tangs ähnelten und sein Herz wie ein Gespinst umgaben.
»Was machst du?«, fragte er.
»Ich reinige dein Herz von der Furcht.«
Erst da merkte er, dass er mit aufgeknöpfter Jacke und bis zum Gürtel aufgeknöpftem Hemd daliegt und einen in Wellen vom Meer her kommenden kalten Lufthauch spürt, und an der Stelle seines Herzens befindet sich eine feuchte Leere, die der Wind besonders kalt bestreicht …
Der Schütze entfernte ein letztes dunkles Fadenbüschel mit der gekrümmten Klinge und pflückte, nachdem er das Messer fortgeworfen hatte, noch einige letzte Fasern mit den Fingern ab, dann besah er sich das saubere Herz, ein elastischer Muskelklumpen, wie sich zeigte, spülte es im sauberen Bachwasser, legte es in die Brust des auf der Erde ausgestreckten Menschen … Dieser merkte, dass der Schütze das Herz mit Fleisch bedeckte. Eine gute Deckung für das Herz: schwer, kompakt … Er versuchte seinen Kopf zu heben und sah, dass die Hände des Schützen weiß waren von Lehm, und da drang in seine Nüstern dieser seltsame vertraute Geruch, dieser Geruch der Moore, der von Geländefahrzeugen aufgerissenen morastigen Tiefe, des märchenhaften Lehms, des essbaren Lehms, des Fleischs der Erde …
Und wie der Schütze ihm mit einem Tuch, das er zuvor um die Stirn getragen
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