Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
frei sind. Realisiert sich der Entwurf nicht, so ist das eine Tragödie oder Komödie, jedenfalls eine Geschichte von der Länge eines kurzen Menschenlebens, einer Spanne von dreißig Jahren.
Der Künstler ist immer Maximalist, er will nicht mit Bedingtheiten und Umständen, die das Leben mit sich bringt, rechnen. In seiner Vorzeichnung der Zukunft ist er apodiktisch, genau wie der Schöpfer, der den Menschen zu hohem Amt erschafft. Und so taucht der Schütze auf: der Junge, der auf einem Hügel die Bogensehne spannt, der ungebundene Sohn der Natur, der Große Nomade, frei wie ein Vogel … Begreift er, dass ihm ein Schicksal geschenkt wird, ein Amt, das auf der Sternentafel des Himmelsgewölbes geschrieben steht? Der Schütze: fünf Sterne, fünf Zeichen, die in dunkler Nacht als bläulicher Schimmer aus der Tiefe des uns umgebenden großen Rätsels hervortreten; Hüter der Finsternis, Hüter der mit trockenem Rauschen vorbeifliegenden Meteore, Hüter des eisigen Funkelns riesiger, fern der Erde in ewiger Dunkelheit kreisender, kalter Planeten. Doch leider wird, was geschrieben steht, nicht gelesen, die Prophezeiung erfüllt sich nicht. Fünfundzwanzig Jahre gehen ins Land. Da hat der Schütze, der inzwischen Chef des Hubschrauberlandeplatzes von Bugrino geworden ist, eines Tages – genauer, eines Nachts, denn die Polarnacht ist bereits angebrochen – ein Schlückchen zu viel getrunken, als auf einmal, mitten im Schneesturm, das Funkgerät lebendig wird, ein Knacken und Knistern im Dunkeln, die Peilung, die ihm einen Helikopter mit irgendeinem Natschalnik beschert. Mit der Lampe geht er hinaus in die finstere Nacht, um dem Piloten als Leuchtfeuer zu dienen; aber ob nun der Wind zu scharf oder der Wodka zu stark war, jedenfalls beutelt es ihn von der einen Seite des Bohlengevierts zur anderen; er versucht sich auf den Beinen zu halten, gibt eifrig mit der Lampe Signal, aber – Potzblitz! – der donnernde Rotorlärm nietet ihn um, bringt ihn zu Fall …
Im Übrigen nicht allzu tief: Er wird Mitarbeiter der örtlichen Funkstation. Mit brennendem Lötkolben sitzt er, Kolophoniumwölkchen auspustend, zwischen grauen Metallapparaten, schwarzen Hebeln, blinkenden Skalen und lauscht bei einer Papirossa den undeutlichen Rufzeichen und Geräuschen der Welt. Von Radiotechnik versteht er nicht allzu viel, aber doch genug, um darauf zu hoffen, dass er den brummigen Hausherrn, den Recken mit dem Seemannsbart, beerbt, der – zum wievielten Male schon! – sich anschickt, den Kram hinzuschmeißen und in die Heimat, nach Piter, zu gehen, aber einstweilen repariert er noch sorgsam alles querbeet: Uhren, Elektroteekocher, Radios und Fernseher, begreift er doch (oder nicht?), dass in der nördlichen Metropole wohl kaum jemand seiner Insulanerfertigkeiten bedarf, da dort längst niemand mehr all diese Spidolas, Rubins, Temps oder Karawellas, die er hier bis ins Molekulare zerlegt, reparieren lässt.
Habe ich das Recht zu behaupten, der Schütze habe, indem er sich häuslich einrichtete, vier Kinder in die Welt setzte und obendrein hinter seiner Barackenhälfte eine Banja baute, sein Leben nicht so gelebt, wie er es hätte leben sollen? Ja, war er denn, nur weil einmal zwei Künstler seine Gestalt mit dem Bogen in der Hand festhielten, verpflichtet, sein Leben nach deren Skizze weiterzuzeichnen?
Nein, wir wissen, es wäre Unsinn, ihm dergleichen abzuverlangen, haben wir doch gelernt, dass der Mensch frei ist …
Wenn noch klar wäre, worin.
Kann man solche Fragen stellen, ohne dem Menschen gegenüber, der einem vom ersten Wort an vertraut und sich über einen gefreut hat, grob herablassend zu werden?
Aber kann man derlei Fragen generell nicht stellen?
Wo ist jene wunderbare Insel, Ada, von der du erzählt hast?
Wo ist die herrliche Klarheit des Hohen Nordens, wo sind all diese Menschen – Uesko, Tauli, Ide –, oder ist ihnen dasselbe widerfahren wie dem Schützen? Sind ihre Namen verblasst und zu gewöhnlichen russischen Namen geworden? Wo ist die junge schöne Lartschi, die in einem wunderlicherweise auf die Insel geratenen italienischen Film Anna Magnani sah und, betört von deren unerhörter Schönheit, in weißen Pumps verträumt durch gefrorene Gischt den Strand entlangspazierte? Und wo ist dieser Strand, über den man – statt in solidem Schuhwerk – in weißen Pumps spazieren konnte, ohne sich den Fuß aufzureißen oder zu brechen? Wo ist jenes kleine gastfreundliche Dorf, Ada? Oder genügten drei Jahrzehnte, um
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