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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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hatte, die Brust abrieb, das Hemd zuknöpfte, die Jacke, da dachte er die ganze Zeit, wie kann das angehen, der Lehm wächst doch am Körper nicht an, der Lehm ist doch tot …
    »Steh auf, los«, flüsterte der Schütze ihm plötzlich ins Ohr. »Los, steh auf, sonst kommst du zu spät und fliegst nicht.«
    Er stand auf: Am Boden blieben ein paar Flecken geronnenen Bluts zurück, feine, an verfaulte Pflanzen erinnernde schwarze Fasern, irgendwelche abgestorbenen Wurzelstückchen, sein wie ein totenstarres Fischlein gekrümmtes Messer.
    »Aber es kommt doch kein Hubschrauber …«
    »Hörst du?«, fragte der Schütze.
    »Nein.«
    »Er ist noch ein ganzes Stück weg. Da, über der Koschka dort, so zwei Fingerbreit obendrüber. Siehst du ihn?«
    »Nein.«
    »Der schwarze Mückenpunkt. Siehst du ihn?«
    »Ja.«
    »Das ist dein Hubschrauber. Der letzte. Gleich ist er hier, du musst dich sputen …«
    Er tat einen Schritt, einen zweiten: Die Lehmbrust löste sich nicht ab, das Herz fiel nicht heraus. Über ihren Köpfen dröhnte der Hubschrauber auf; das Kanzelfenster flammte blendend von Sonnenreflexen, der blaue Bauch des Helikopters strich über ihre Köpfe hinweg …
    Sie rannten zum Hotel, der Wind drückte das grüne Gras zu Boden, aber sie liefen leichten Fußes.
    Der Wind riss ihm die Mütze vom Kopf, sie wurde fortgetrieben übers Gras bis in eine rote Torflache … Macht nichts: er musste etwas auf der Insel zurücklassen, damit er wiederkommt … Der Schütze reichte ihm den Rucksack hinauf und trat zurück.
    »Vielleicht schreibst du ja mal«, sagte er plötzlich.
    Die Tür ging zu, schnitt den Passagierraum von der Außenwelt ab. In der Kanzel ruckte der Pilot mit allerlei Hebeln, über seinem Kopf setzte der Warnton ein.
    Als er plötzlich merkte, dass er nicht geantwortet hatte, obwohl die Antwort in ihm bereitlag, wummerte er mit der Faust gegen die Scheibe.
    »Ich komme wieder!«, brüllte er aus Leibeskräften. Aber der Schütze hörte ihn nicht. Er war an den Rand des Hubschrauberlandeplatzes gegangen, hatte sich dann umgedreht und mit hochgezogenen Hosenbeinen, um sich nicht mit der roten Morastbrühe zu bespritzen, die Mütze aus dem Sumpf gefischt und das Wasser herausgeschüttelt.
    Der Warnton über seinem Kopf stieg einen Ton höher. »Pieppapp!« »Pieppapp!« Der Kopilot nahm seinen Platz ein. Die Rotorblätter drehten sich mit leisem Surren; mit zunehmender Geschwindigkeit jagten sie den Ton ins Ohrenbetäubende, Markerschütternde hinauf. Die Maschine schwankte im Takt der von ihr ausgespienen Geräuschwellen, eine ungeduldige, wütig sich in den Bohlenboden krallende Riesenhummel. Die Menschen waren vom Landeplatz zurückgewichen, standen als zusammengedrängtes Häuflein neben der rostigen Zisterne. Der vom Rotor aufgepeitschte Orkan zerrte an ihren Kleidern …
    Plötzlich wurde das Geräusch gleichmäßiger: sich auf die Seite legend, stieg das Insekt in die Lüfte. Die Häuser des Örtchens begannen zu versinken, wurden kleiner und kleiner: der Klub, das Hotel, das Häuschen des Schützen, das Geschäft …
    Dann erblickte er schmale Bänder aus Sand – die Ploskije Koschki, und danach, als er ein paar Minuten später aus einem Seitenfenster schaute: das tiefe, sattdunkle Blau der See, über das plötzlich ein weißer Schaumkamm hinwegrollte, und er dachte: Sogar eine Welle, wenn die selbst aus der Höhe …
    Er stellte sich diese grenzenlose See vor, über die mit flackerndem weißem Kamm die Wellen jagen, einander in der kalten Weite niederwalzend … Wie die Gischt rollt und rollt und unerträglich blau die grenzenlose Schale dieses weiten Raumes windgeschaukelt flirrt …
    Plötzlich verspürte er in seinem Herz einen stillen stechenden Schmerz. Da war keine Furcht, auch kein Zweifel. Wie gut, dass er zum Schluss diese wunderbare Welle gesehen hatte. Er knöpfte seine Jacke auf, dann das Hemd und befühlte die Stelle, die der Schütze mit Lehm bestrichen hatte. Er spürte unter den Fingern das Fleisch, überall sein eigenes, lebendiges Fleisch, nur ein bisschen lehmverschmiert war die Haut. Er legte die Hand flach auf die Brust, spürte seinen Herzschlag: gleichmäßig. Das Fleisch der Erde war sein Fleisch geworden. Und das, was er für einen Schmerz gehalten hatte, war einfach die Sehnsucht des von der Furcht befreiten Herzens nach den menschenleeren Weiten, in denen die Freiheit wohnt und die er nicht hatte lieben können, solange er Angst hatte …

III
DAS BUCH DER WANDERUNG

Der

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