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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Anfang
    Endlich geht es los!
    Kaum gelandet und unseres Gepäcks entledigt (im alten Hotelzimmer mit Blick auf Dorf und See und reglose Schiffssilhouette in weiter Ferne), laufen der sechzehnjährige Kapitän Pjotr und ich zur Bugrjanka-Mündung, wo ich zum ersten Mal – damals, des Nachts – voll namenloser Begeisterung, einer so reinen, leichten Begeisterung war, dass mir schien, es fehle nicht viel und ich finge an, über der Erde zu schweben …
    Zwei Jahre, zwei ganze Jahre habe ich darauf gewartet, hierher zurückzukehren … Ja, ich habe mich an diese Küste zurückgesehnt, denn: jetzt, da die vertrauten Gerüche – des Salzwassers, des Lehms, der sonnendurchwärmten Gräser, des feuchten Sandes – immer näher kommen, begreife ich endlich, woher im Vorfrühling, wenn mir irgendwo auf dem Land der dampfige Geruch von getauter Erde in die Nase stieg, mich plötzlich Unruhe befiel, als ob ich einen fernen Ruf hörte …
    Als wir in eine von zwei Hügeln eingefasste Talsenke hinuntersteigen, tauchen wir unvermutet in ein Gefäß voll warmer Luft, die getränkt ist vom hauchfeinen Aroma der Gräserpollen und Blumenblüten: Vergissmeinnicht, Achtblättrige Silberwurz, Moltebeere – man bekommt hier einen hummelartigen Geruchssinn, um derlei Düfte wahrzunehmen. Und da – das zarteste Geschöpf inmitten von Lehm, ein blaurosa Schimmer inmitten von sattem Grün und Umbra, kleine Flügel mit vier Tüpfelchen am Außenrand: ein Augenfalter. Jetzt lässt er sich auf dem sonnendurchwärmten Abhang nieder, auf einem luftigen Weidenzweig, und klappt mehrmals leicht seine Flügel auf, mit Adern, über die lockend ein Blau wie vom Nachthimmel streift und leuchtende, beinah weiße Stahlglut; dann zwingt ein scharfer Windstoß ihn, sich klingendünn zusammenzufalten, ein braunes Blatt, das umhergewirbelt wird im Sog der Luftströmungen, in denen sich die ihren Wohnstätten entrissene Kälte staut. O herrlicher Schmetterling, der du uns mit den Schriftzeichen deiner Flügel willkommen heißt! Ein gutes Zeichen. So wie auch unser Ankunftstag, der 27. Juli 1994, ein ganz außergewöhnlich klarer, heiterer, von Sonne und Hoffnung erfüllter Tag war, obwohl es beim Einchecken in Narjan-Mar geregnet hatte und aus der Luft Schneereste in den Tundraschluchten zu sehen waren.
    Bislang erfahren unsere Moskauer Pläne fortwährend Abänderungen, was ihre extreme Unzulänglichkeit verrät. Schon der erste, noch in Narjan-Mar mit Korepanow unternommene Versuch, unsere Wanderroute festzulegen, blieb ergebnislos; die Bewegung unserer Finger über die großmaßstäbliche Karte, die wir uns mit einiger Mühe im Geographischen Institut verschafft hatten und auf der die Insel zu einem ungewohnt großen, nachgerade gigantischen Fladen von fast fünfzig Zentimetern Durchmesser anschwoll, hatte etwas vom glättenden Bestreichen der Innenfläche eines Gefäßes aus ungeknetetem Lehm voller Einschlüsse: winzige Muscheln, Steinchen, Sand, Wurzelstückchen und anderes organisches Material …
    Vergeblich. Der Ton wird rissig, und diese Risse zu verstreichen ist unmöglich: Die Insel ist für uns ein zweifelhaftes Terrain, und zweifelhaft ist damit auch unser Plan, sie zu zweit zu durchqueren, indem wir uns irgendwo im Inselinnern oder am besten gleich am Serwerny von einem Geländefahrzeug absetzen lassen, von wo aus wir dann, immer schön geradeaus, ins Dorf zurückstiefeln, wo uns der Hubschrauber wieder aufnehmen würde.
    Wjatscheslaw Kusmitsch machte ein betroffenes Gesicht:
    »Geländefahrzeuge gibts da jetzt wahrscheinlich keine fahrtüchtigen …«
    »Kein einziges?«
    »Einen Traktor.«
    Tja. Das ändert zwangsläufig die Sache, denn zum Serwerny und zurück schaffen wir es einfach nicht, und auf jeder anderen Strecke, quer durch die Tundra, würden wir uns verirren, selbst mit guter Karte: für Stadtbewohner ist die Tundra nun mal ein komplizierter, verschlungener Raum voller überraschender Fallen und optischer Täuschungen, und wir verfügen zugegebenermaßen nicht über die Erfahrung, uns durch diesen Raum abseits permanenter Orientierungshilfen – Fahrweg, Fluss, Küste – zu bewegen.
    Außerdem würden wir uns natürlich gern sofort abnabeln und möglichst weit vom Dorf entfernt uns an einem schönen, interessanten Ort wiederfinden: möglichst nah an den Blauen Bergen oder der Mündung irgendeines Flüsschens …
    »Und wenn wir jemand überreden, uns mit der Dora 13 übers Meer bis zu irgendeinem Punkt an der Westküste zu

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