Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
warfen, wo in Stadtanzügen die beiden Bevollmächtigten – der eine am Tisch sitzend, der andere unentwegt auf und ab gehend – eifrig Zigaretten qualmten und sich nach Kräften bemühten, den weiblich-akkurat hergerichteten Raum in eine verräucherte Folterkammer zu verwandeln, wobei sie von Zeit zu Zeit einen strengen Blick auf die Übeltäter warfen, aber auch auf uns, weil wir mit unseren unbekümmerten, sicheren Mienen diese Transformation natürlich behinderten.
Der Tag laugte die beiden Bevollmächtigten derart aus, dass sie sich abends im »de luxe« Doppelzimmer unseres Hotels, in das anlässlich ihres Aufenthalts ein Fernseher gestellt worden war, einschlossen und – jeder bestimmt noch ein Päckchen Zigaretten rauchend – einer Literflasche Wodka den Hals brachen, ehe sie, ohne nur einen Schritt nach draußen getan zu haben, in Erwartung des Helikopters, der sie am Morgen abholen sollte, in ihre Betten fielen.
Zum Glück verlief Pjotrs und mein Tag ganz anders. Kaum hatten wir das Verwaltungsgebäude, diesen zeitweiligen Hort eines furchterregenden Gerichts, verlassen und waren im Hotel zurück, um endlich auszupacken und uns etwas zu essen zu kochen, da entdeckte ich bei einem Blick aus dem Fenster einen Mann, der für uns von allergrößter Wichtigkeit war. Er ging ohne Hast, aber geschäftig seines Wegs; ich schoss sofort aus dem Zimmer, ihm hinterher, damit er mir nicht entwischte. Der Mann war Grigori Iwanowitsch Ardejew, den ich vor zwei Jahren in der Tundra bei der Rentierzählung kennengelernt hatte. In Bugrino dürfte sich von den Nenzen außer ihm höchstens noch Iona an mich erinnern, der alte Iona, der einst als Junge beim Singen auf einem Hügel von Ada gezeichnet worden war. Und dann noch Alik natürlich, der Schütze, doch die Umstände unserer letzten Begegnung im Traum veranlassten mich ehrlich gesagt, ein Wiedersehen mit ihm um jeden Preis zu vermeiden, obwohl ich als vernünftig denkender Mensch hätte wissen müssen, dass es nicht zu vermeiden war.
Mit Grigori Iwanowitsch verband mich eine Geschichte, die sich in der Tundra abgespielt hatte, nachdem ich mich endlich wieder halbwegs gefangen hatte. Was mir nicht gleich gelang, sondern seine zwei Tage brauchte, denn selbst im Vergleich zu dem, was ich an der Petschora gesehen hatte, war das, wohin ich da geraten war, eine ganz andere Welt, ein anderes Jahrhundert, zumindest eine andere Zeit, deren Kleider die Menschen um mich her trugen – auch sie, ihre Augen, aus einer anderen Zeit, ebenso alles Übrige: am Gürtel um Grigori Iwanowitschs Maliza hing in einer gelbkupfern beschlagenen hölzernen Scheide ein Messer – eines, wie sie vorzeiten die Komi den Nenzen verkauften –, und ich sah ihn damals mit ungreisenhaft kräftiger Hand den grauen Stahl dieses Messers in die breite Brust eines Rentiers treiben und den Griff in der Quelle des durchstoßenen Herzens schwimmergleich zucken …
Zwei Tage lang hatte ich mit kaum jemandem – von diesen immerhin rund fünfzehn Menschen jeden Alters, vom Kind bis zum Greis – geredet, hatte mit ihnen die Rene zusammengetrieben, vereinzelt ein Foto geschossen, gegessen was mir vorgesetzt wurde, dann weiter die Rene zusammengetrieben. Offenbar schlug ich mich nicht schlecht, denn zuletzt sagte Jegor Afanassjewitsch, der Brigadier – ein Trumm von einem Mann und ruhig wie ein Walross: »Der Fotograf, der soll mal ein Weilchen bei uns arbeiten, nicht mit der zweiten Brigade.« Kurz, ich war eingetaktet. Hatte außerdem noch – gerade zum richtigen Zeitpunkt – die Leute zum Lachen gebracht, als ich mir statt mit heißem Wasser meinen Tee mit Dieselöl aufgoss: In jedem Tundrabalok steht neben dem Ofen ein Teekessel mit Dieselöl, um das Feuer leichter zu entfachen, aber das hatte ich nicht gewusst. Der Teekessel war genauso zerbeult und geschwärzt wie alle. Ich nehme ihn also, gieße mir ein und merke, die gucken irgendwie komisch. Da hab ich dran gerochen … Kurz, der Missgriff trug zur Entspannung der Situation bei. Bis dahin hatten wir irgendwie den Mund nicht aufbekommen, sie anscheinend aus Scheu, ich wohl eher aus Angst, weil ich das mit Alik ja nicht zufällig geträumt hatte, denn wie dem auch sei: Wenn die Luft von Blut, und sei es nur Rentierblut, gesättigt ist, kann mit den Leuten schon mal was durchgehen. Auch Alik war da draußen ein ganz anderer, und ich begriff nicht gleich, dass er der Sohn von Grigori Iwanowitsch war. Der Vater – ruhig, gutherzig, vernünftig, immer
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