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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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die Tröge zugereicht hat?«
    »Ja.«
    »Also das war ich …«
    Aus irgendeinem Grund ist es Tolik wichtig, dass ich mich an ihn erinnere.
    Er hat, wie sein Vater, ein paar Jahre als Bäcker gearbeitet. Buk sehr gutes Brot. Aber dann hat er gekündigt, was sich schon verstehen lässt: eine trübe Funzel, schwarze Wände, gelbes Mehl, ein hitzespeiender Ofen, glühende Backformen, Handschuhe mit Brandlöchern, ein trinkender Lagerist, die ewige Schlange: trübe Augen, hochgeschlagene Kragen; und das tagaus, tagein. Die Kohle, der Ofen, das Mehl, der Sauerteig, zwanzig Schritt bis zum Laden, zwanzig zum Speicher, zweihundert bis zur Kohlenhalde auf dem Strand, fünf hundert bis nach Hause. Das ist der Raum, in den ein guter Bäcker eingesperrt ist, tagaus, tagein und in alle Ewigkeit. Er ist an seinen Ort gekettet wie ein Hund: die Leine ist lang, aber nicht länger als vierundzwanzig Stunden, auch das Drahtseil, über das sie gleitet, ist lang – aber nicht länger als die Straße …
    Ein vertrautes Thema: Wie befremdlich es hier klingt, am Ende der Welt!
    Tolik hat die Flucht ergriffen.
    Der Lagerist hat sich erhängt.
    »Hör mal«, quetsche ich endlich hervor, »wo ist eigentlich Alik?«
    »Unterwegs in der Tundra.«
    »Wann kommt er zurück?«
    »Hat er nicht gesagt. Ihr habt euch ja nicht angekündigt …«
    »Ich hab bis zuletzt nicht gewusst, obs klappt oder nicht.«
    Das war gelogen. Aber Tolik hat es mir abgenommen:
    »Hab ich mir schon gedacht.«
    Ich schämte mich, aber rot bin ich nicht geworden. Verzeiht, Brüder in der Wanderschaft … Vergebt mir …
    Tolik deklarierte, wir sollten morgen auf brechen, mit dem Motorboot, bis an die Waskina – was mich freute: dort wären wir auf einen Schlag vom Dorf abgenabelt, runde dreißig Kilometer von seiner unmittelbaren Anziehungskraft entfernt, die, ganz gemäß dem Newtonschen Gesetz, mit zunehmender Distanz abnahm. Später stellte ich fest, dass die Hälfte der Dorf bewohner nie einen größeren Abstand zwischen sich und die Siedlung legte als den, der notwendig war, um sich für einen Tag in die Tundra abzusetzen und wieder zurückkehren zu können. Eine andere wichtige Grenzlinie umriss der Tagesmarsch, zwanzig, fünfundzwanzig Kilometer. In diesem Abstand bewegten sich viele »Trabanten« – die Baloks der Jäger, Schutzhütten, die in der Regel an den Flussmündungen und nicht allzu weit auseinander liegen. Sich auf eine weiter entfernte Umlauf bahn zu begeben, erforderte einen großen Aufwand an Kräften oder Material (Benzin), der nur schwer vernünftig zu rechtfertigen war. Trotzdem schoben einige Wenige – vielleicht aus einem besonders starken Bedürfnis nach Einsamkeit, vielleicht auch aus anderen Gründen – ihren Balok noch vier, fünf Kilometer weiter hinaus. Aber dahinter …
    Dahinter begann die
Tundra
im eigentlichen Sinne, das offene Universum, die Milchstraße der nomadischen Existenz mit ihren vergessenen Pfaden, denen heute nur noch eine Handvoll Menschen folgt. Das Universum begann im Grunde gleich hinter der breiten Mündung des Flüsschens Waskina, das sich nicht durchwaten ließ, und die Orte, wohin wir nach drei, vier oder mehr Tagesmärschen, wie wir sie uns zutrauten, gelangen wollten – ebenso viele Tage des Rückmarschs einbegriffen –, erschienen mir in gewissem Sinne überhaupt als ein anderer Planet …
    Tolik sagte, er nehme ein Zelt mit, ein Gewehr, ein Schlauchboot, und uns gibt er Felle für unter die Schlafsäcke, denn ein Fell, auch ein nasses, »wärmt«, während eine »Haut« – eine Kunststoffunterlage – nicht wärmt und sich mit Wasser vollsaugt, also in der Tundra nichts taugt.
    Er inspizierte unsere Lebensmittel und entdeckte viel Überflüssiges: Wir hatten Graupen dabei, zwei Sorten Nudeln und dann noch Tütensuppen. Eins von den dreien reichte, fand er, um zusammen mit einer Büchse Fleisch morgens und abends etwas Passables zu kochen. Er sagte, wir sollten die Hälfte davon dalassen, aber noch Tee und Zucker zukaufen.
    »Tagsüber esst ihr doch nicht, oder?«
    Ich esse tagsüber immer, beschloss aber einstweilen, mich zu dieser Frage nicht zu äußern.
    Durch Toliks schroffe Art schimmerte deutlich das Zupackende und Ungestüme seines Bruders durch.
    Die Reise, die ich mir bisher in einem romantischen Licht als eine relativ ferne und gewiss angenehme Möglichkeit ausgemalt hatte, rückte mit einemmal so hart heran, dass einige zwangsläufig mit ihr einhergehende Konsequenzen sich abzuzeichnen

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