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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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begannen: Müdigkeit, leerer Magen, unser Ausgeliefertsein – draußen im Universum der Tundra – bei schlechtem Wetter. Ich versuchte nicht daran zu denken, was uns erwartete, wenn es richtig goss: Pjotr hatte eine gewöhnliche wattierte Baubataillonjacke dabei, ich eine alte Daunenjacke aus einem guten, aber stark abgewetzten Synthetikgewebe, das ich vor unserer Abreise zwar mit einem wasserabweisenden Mittel behandelt hatte, doch zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass ein richtig feuchter Tag genügte und die Jacke wäre durch. Zudem war fraglich, ob wir Toliks Marschrhythmus gewachsen wären. Er sagte, er und Alik seien schon ihre fünfzig Kilometer am Stück gelaufen, von den »Krickentenseen« zurück mit den Rucksäcken voller Frischfisch. Ich verstand ihn so, dass sie das nicht nur einmal gemacht hatten und folglich ein doppelt so langer Tagesmarsch wie der, den ich eingeplant hatte, für ihn sozusagen etwas Gewohntes war. Außerdem nahm er, wie er erzählte, wenn er für eine Woche in die Tundra ging, nur vier Suppentüten, drei Brote, Tee, Zucker und Unmengen Papirossy mit.
    Das Ganze war für mich erstaunlich und bedrohlich, insofern ich meinen Körper bislang nur komfortablen sportlichen Belastungen ausgesetzt und nie erprobt hatte, was er unter Extrembedingungen aushielt. Ich zweifelte nicht daran, kräftig genug zu sein, hatte aber unverhohlen Angst vor
feuchter Kälte
und anderen Konsequenzen, die sich zwangsläufig aus unserem – ja von uns selber so ersonnenen – »Abgenabeltsein« von allem Gewohnten ergeben würden, denn die Wahrscheinlichkeit (ja Unvermeidbarkeit) von Unbequemlichkeiten, die wir bis jetzt nicht vor Augen gehabt hatten, wurde hier vor Ort unübersehbar. Aber das hatte alles keinerlei Bedeutung mehr: Befürchtungen mussten wir jetzt in den Wind schlagen und uns schnell rüsten.
    Wir kippten den Inhalt unserer Rucksäcke auf den Boden, um noch einmal neu zu packen. Wir hatten die Sachen gerade halbwegs nach ihrem Grad der Notwendigkeit sortiert, da tauchte Tolik auf und erklärte, er sei fertig. Ich hätte vor Wut beinah geschnaubt, denn es war mir unvorstellbar, wie jemand in einer halben Stunde packen konnte, der bis dahin noch nichts von einem bevorstehenden Auf bruch gewusst hatte. Später wurde mir klar, dass das nicht erstaunlicher ist als die Alltäglichkeit, mit der der Metropolenbewohner jederzeit auf einen Gang in die Stadt vorbereitet ist, mit Monatsticket, Geld und Mobiltelefon in der Tasche, und im Kopf präzis, minutengenau, die Wegstrecke bis zu seinem Ziel. Wobei natürlich das Entscheidende ist, eine Vorstellung von seinem Ziel zu haben, einen Begriff davon, was man an diesem Tag von der Stadt will und wie man es bekommt.
    Tolik, jederzeit bereit zum Auf bruch in die Tundra, besaß genau einen solchen klaren Begriff von diesem wilden Raum, er wusste ganz genau, wie lang und wie schwierig unser Weg würde, wo wir Wasser finden konnten und wo ein Schneehuhn oder eine Gans erlegen, um damit die kleine Menge Graupen zu ergänzen, die mitzunehmen war, wo sich am besten übernachten ließ und wie am Ende eines Tages die Kräfte am schnellsten wieder herzustellen waren.
    Abgesehen vom Schlauchboot, dem Gewehr und anderen kollektiven Ausrüstungsgegenständen hatte Tolik, wie ich später zusammenzählte, diese Dinge dabei:
    – 1 Löffel, 1 Schüssel, 1 Pott;
    – 1 Messer;
    – 1 schwarze Wolldecke anstelle des Schlafsacks;
    – 1 Fell;
    – 1 Paar leichte Laufschuhe;
    – 1 Gummiregenmantel für eventuelle Regengüsse;
    – Patronen;
    – Papirossy.
    Alles andere meinte er sich in der Tundra verschaffen oder uns abluchsen zu können, insofern wir sorgfältigst vorbereitet waren und für jede Lebenslage alles dabeihatten. Mit einer Mischung aus Begeisterung und Unverständnis betrachtete er unsere Wirtschaft, aus der sich die Verkaufstheke eines kleinen Lädchens mit einem Haufen interessanter und nützlicher Dinge hätte bestücken lassen, deren Nutzen und Wert – als Einzelgegenstände wie zusammengenommen – für ihn außer Zweifel standen. Er konnte nur nicht begreifen, wie wir das alles – Konserven, Graupen, Nudeln, Kaffee, Tee, Zwieback, Trockenobst, süße Kondensmilch, Schokolade, Bücher, einen Fotoapparat mit drei Objektiven und einem Haufen Filme, einen Rekorder samt Kassetten, Rähmchen für ein Herbarium, Toilettenartikel, Wäsche zum Wechseln, Hosen, Hemden, Socken … – mit uns hinaus in die Tundra nehmen wollten.
    Ich schwöre, wir hatten

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