Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
Vom Netzwerk:
den beiden nicht. Sie tippen mit dem Finger auf die Karte, wechseln ein paar Sätze auf Nenzisch, aus denen deutlich Zweifel herauszuhören ist. Was ihnen Sorge macht, ist natürlich das tiefe Gatt, der Promoj, aber auch vier offenbar von den Gezeitenströmungen entstandene, die Koschka zerschneidende Baljen. Auf der Karte sehen sie nach lächerlichen Hindernissen aus, aber anscheinend sind sie das nicht. Außerdem gibts da noch etwas, was ich einfach nicht verstehe: Ihre Finger kehren andauernd zu einem länglichen Inselchen zurück, an dem das einzig Bemerkenswerte die Zahl 2 ist, die seine Höhe über dem Meeresspiegel angibt – anders gesagt, ein flaches, bei Ebbe mit seinem einen Ufer direkt mit der Nehrung verbundenes Inselchen. Aber das kann die beiden doch kaum beunruhigt haben. Von solchen Inseln und Landzungen, die unmittelbar von der Koschka abzweigen, gibts da fünf oder sechs, auf der Karte erinnert das Ganze an einen anatomischen Schnitt, zum Beispiel an der Kieferhöhle: Leerräume zwischen porösem Knochen – ein Vergleich, der umso besser passt, als die vom Meer durch die Koschka abgetrennte Promojnaja-Bucht ein ebenso merkwürdiger Resonanzraum des Inselschädels ist, wie die Nasen- und Stirnhöhlen es im menschlichen Schädel sind, bloß durchpulst hier diese Leerräume nicht Sauerstoff, sondern das Meer, das durch die engen Nasenlöcher der Gatts, durch Sandbänke und Inseln in die Feste eindringt … Hier will sich das Meer der Erde verschwistern, ihr Salz und Feuchtigkeit spenden, sie mit seinen Liebkosungen wiegen, den Schlamm in einem Verhältnis von 1 : 9 (oder umgekehrt) mit Wasser durchmengen und eine unvorstellbare Landschaft erschaffen: halb Meerbusen, halb salzwasserhaltiger Strandsee, mit kahlen, spukhaften Inseln, die bei Ebbe emportauchen, wenn Lehmbänke den schmalen Durchlass versperren – diesen Durchlass, der selbst bei Tidenhochwasser so flach ist, dass ein Motorboot nicht passieren kann, der sich aber auch nicht zu Fuß umrunden lässt wie ein See, weil man Gefahr läuft, für immer im zähen Lehm steckenzubleiben oder in eine unerwartet tiefe, von den Gezeiten in dieses Wasserloch geschnittene Rinne zu schliddern und zu ertrinken. Zugegeben, ein absolut befremdlicher Ort, aber wir haben ja nicht vor, die Viskosität der hiesigen Lehme zu erforschen; was wir brauchen ist Sand, festen Boden unter den Füßen, und die Koschka ist eine unermesslich lange Sandbank, eine Nehrung, hinter der die offene See beginnt – ein ausreichend solider Wall, den die Wellen sogar bei schwerem Sturm nicht überspülen und der noch bei extremem Hochwasser eine Breite von zwei-, dreihundert Metern hat. Ein ausreichend breiter und ebener Weg, um sich noch in einem mehrkilometrigen Abstand von der Küste (die ja eben morastig und von Fluss- und Bachbetten durchschnitten ist) vollkommen sicher zu fühlen. Oder? Nein, etwas bereitet Tolik und Grigori Iwanowitsch noch immer Kopfzerbrechen.
    »Wasser«, sagt Grigori Iwanowitsch. »Es gibt dort überhaupt kein Wasser. Höchstens hier, da gibts ein sumpfiges Fleckchen.« Er tickelt mit dem Finger auf das Inselchen mit der Zahl 2. »Wenn ihr plötzlich übernachten müsst und habt kein Wasser? Wie wollt ihr außerdem das Zelt aufstellen? Da bläst es, und wie?«
    Tot wie ein Walknochen, krustig wie ein Solontschak, gelb wie der Mond spannt sich die kalte Düne, ein gigantischer Bogen, in der blauen Weite des Meeres …
    Tolik nickt zu den Worten des Vaters: besser, wir folgen der Küste.
    »Der Boden ist fest da, fest …«, wiederholt Grigori Iwanowitsch lächelnd, als er sieht, dass wir uns nur widerstrebend von unserer eigenen Idee verabschieden.
    Nachdem sein Vater gegangen war, fragte Tolik plötzlich:
    »Erinnerst du dich, wie ihr das Brot ins Geländefahrzeug verladen habt, da war in der Bäckerei so ein junger Typ?«
    Ja, die Bäckerei: ein altes graues halb eingesunkenes Haus am Dorfrand, der ehemalige Faktoreispeicher 14 ; das vorsichtig rückwärts heranruckende Geländefahrzeug. Alik und ich sprangen ab, und ohne einen Blick für die demütig-starr wartende Schlange rissen wir die Tür zu dem dunklen, heißen, nach gesäuertem Teig duftenden Raum auf, wo in Mulden fahl die frischen, heißen Brotlaibe glänzten, die wir in alte rote Säcke schütteten. Ja, da war jemand gewesen, er hatte »Hier, das da ist euers« gesagt, und wir hatten die Laibe wie Backsteine in die Säcke geschüttet …
    »Erinnerst du dich, da war ein junger Kerl, der euch

Weitere Kostenlose Bücher