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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Leben doch sei, und nebenbei einflocht, dass das bestimmt doch wir seien, die er da morgen mit dem Boot an die Waskina bringt. Jeder klar denkende Mensch sah, dass er uns in dieser euphorischen Stimmung nicht hinbringen konnte. Erst wenn er den Moralischen hatte, würde er es können, denn – fasse einer die ganzen Wunderlichkeiten der Seele, die frohlockend der Hölle zu entkommen trachtet! – die Katertrunk-Seligkeit wäre von kurzer Dauer und die Energie seiner universalen Liebe hielte gewiss nicht sonderlich lang vor. Wahrscheinlich würde er uns auf halber Strecke zur Waskina absetzen und für einen weiteren Nachtrunk ins Dorf zurückjagen … Am nächsten Tag dagegen! Da ist nichts der sorgfältigen Ausführung einer Aufgabe zuträglicher als die heldenhafte Konzentration eines verkaterten Geistes, dessen ganzes Streben auf Enthaltsamkeit geht … Wovon wir tags darauf auch Zeugen wurden …
    Da wir nichts zu tun hatten, schlenderten wir den halben Tag durchs Dorf.
    Alles war wie vor zwei Jahren, nur dass der Straßenbelag oberhalb des Meeres inzwischen ganz kaputt war, und es nicht aussah, als ob er je repariert würde.
    Alles war wie vor zwei Jahren, nur war im mittleren Bereich des Dorfes – genau gegenüber der Stelle, an der im Herbst zwischen den Koschki schwere Wellen vom Meer hereinbrechen – ein großes Stück Uferböschung abgebrochen, so dass die Steilkante jetzt ganz nah an die vorderste Reihe der Häuser herangerückt war, in deren Fenstern sich – da die Scheiben gesprungen oder zerschlagen waren – trübes Zellophan im Wind blähte. Das leise Zittern des rissigen Glases hatte etwas von einem Katerschauer, der sich zu einer universalen Angst auswächst. Wie mochte es hier erst im Winter sein?! Eine morsche Vortreppe, eine gebrechliche alte Frau. Sie steht da, sieht abwesend aufs Meer. Der Wind bewegt ihr kurzes Haar. Sie brabbelt etwas und mummelt sich fröstelnd in ihre Wattejacke von demselben Blau, mit dem irgendwann einmal auch die Baracke gestrichen war, wovon noch kleine blaue Farbplacken zeugen, die sich flechtengleich am grauen, von den Winterstürmen wieder freigeschabten Holz festkrallen. Das feine Klirren des Glases und der feuchte Wind … Die Leitungen, vom Meersalz in instabile Oxide verwandelt, reißen unter dem eigenen Gewicht …
    Ein alter Mann sieht in der wärmenden Sonne eine rostige Eisenkette durch. Alle Lebenssubstanz auf der Insel wird von den Menschen aus dem geschaffen, was andere fortgeworfen und sie gefunden haben: Verlorenes wird aufgehoben, Abgerissenes befestigt, Abgeschnittenes angenäht … Metall, Schaumstoff, Seile, Plastik, der ganze an die Insel gespülte Müll der Welt – alles findet hier seine Verwendung. Die Kette. Woher hat sie der Greis? Und vor allem, wozu braucht er sie? Eine dumme Frage: Er hat sie einfach eines Tages gefunden. Und muss es nicht eine Kette auf der Insel geben? Nun, er hat eine.
    Ausgebesserte Filzstiefel, gestopfte rote Wollmütze, vielfach geflickte Wattejacke … Und der Verschlag hinten scheint aus den Latten zerlegter Kisten gezimmert …
    Der alte Mann schaut uns an aus einer dunklen Ferne. Er hat ein erstaunliches Gesicht. Alle alten Leute hier haben erstaunliche und sehr traurige Gesichter, als wüssten sie vom Leben etwas, woran man nicht ohne Gram denken oder sich erinnern kann. Ach ja, die Erinnerung. An Vergangenes. An die Vergangenheit, die keine Lüge und kein Hirngespinst und die herrlich war …
    Weshalb nur trägt der mit entfesselter Kraft unerbittlich aus der Zukunft heranwehende Wind die Bilder, die mir teuer sind, immer weiter fort und türmt zwischen ihnen und den gramgetrübten Greisenaugen irgendwelche Bildchen auf, unsinnige, trickfilmhafte: anstelle der früheren, nahen Menschen irgendwelche neuen, Fremde, die weiß der Himmel woher kommen – solche wie wir zum Beispiel.
    Er hatte einen Sohn. Einen guten. Der bekam eines Tages eine akute Blinddarmentzündung. Der Feldscher 15 wollte nicht operieren, bestellte den Nothubschrauber. Alles lief bestens: Der Helikopter kam und brachte den Jungen rechzeitig ins Krankenhaus nach Narjan-Mar. Dort dann sagte der diensthabende Arzt – bestimmt aus Ärger, weil er samstags arbeiten musste:
    »Mit euch Nenzen ist es immer dasselbe, erst besauft ihr euch schweinisch und dann soll man euch wie Menschen behandeln …«
    Aber der Junge ist nicht betrunken gewesen. Er trank überhaupt nie. Genauso wenig wie der Vater, wie der Bruder. Er hatte einfach eine

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