Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
nichts Verzichtbares oder Unnützes dabei. Dennoch mussten wir uns angesichts des unabwendbaren »morgen« von vielem trennen. Ich wusste seit langem, dass ein 30-Kilo-Rucksack mich erniedrigt und zu einem stumpfen, leidenden Wesen macht und alles, was darüber hinausgeht, die Psyche ernstlich in Mitleidenschaft zieht: Der Wunsch, vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, wird unbezwingbar; die fette Blamage des Scheiterns lässt nichts mehr von dem übrig, was man zuvor für seine Gefühle und Werte hielt …
Kurz, wir sagten Tolik, dass wir am Morgen bereit wären, und machten uns daran, aus der Gesamtheit alles Unverzichtbaren das weniger Unverzichtbare auszusondern. Nachdem ich aus meinem Rucksack das letzte Buch herausgenommen hatte (ein bemerkenswertes und ganz leichtes, dünnes Bändchen mit Zen-Aphorismen: ich trage es stets bei mir, und ehrlich gesagt fiel mir der Verzicht auf dieses Buch – mithin auf ein
Prinzip
– nicht leicht), ging die Sache entschieden schneller voran. Nüchtern entschied ich, dass ich an jenen Orten, wo eine Begegnung mit interessanten Gesprächspartnern höchst unwahrscheinlich war, auch den Kassettenrekorder nicht bräuchte; ihm hinterher wanderten ins »Modul« – eine absolut wasserdichte beutelartige Tasche, die zur Ausrüstung jedes Höhlenforschers gehört – alles fotografische »Zubehör«, der Spiritus, die »Reserve«-Kleidungsstücke, sämtliche doppelten Lebensmittel, unterm Strich fast ein Drittel unseres Gepäcks, zwanzig Kilo. Danach hatten unsere Rucksäcke ein halbwegs tragbares Gewicht. Meiner wog siebenundzwanzig Kilo und Pjotrs etwa ebenso viel. Aber wäre ich nur eine Stunde irgendwo hinterm Dorf damit gelaufen, ich hätte sicher noch die eine oder andere Büchse Fleisch herausgenommen, und dann hätten vielleicht meine Wirbel weniger aufeinander gescheuert und mir die Schulter weniger wehgetan …
Aber wie auch immer: Bereit zum Auf bruch waren wir jetzt, und lang und süß war unser Schlaf.
An einem sonnigen Morgen schleppten wir das Modul mit den überflüssigen Dingen ins »Arsenal«, eine kleine Kammer im Verwaltungsgebäude, hinter deren abschließbarer, mit zusammengeschweißten Eisenstreben verstärkter Tür einige Gasmasken lagerten, eine primitive Militärfunkstation inklusive dazugehörigem Batteriensatz sowie noch eine Menge durchaus nicht unnützer, aber überwiegend nicht intakter Dinge. Doch damit kam unser Auf bruchselan auch schon zum Erliegen. Aus irgendeinem Grunde tauchte Tolik nicht auf. Ich ging zu Grigori Iwanowitsch; ich traf ihn bei einer Schreinerarbeit zwischen den winzigen Schuppen am Strand an: Er hatte irgendwo ein tadelloses frisches Stück Holz aufgetan (wobei gesagt werden muss, dass auf Kolgujew nur Treibsel zu finden ist: Hölzer, die von den Flüssen des Hohen Nordens ins Meer gespült werden) und fertigte jetzt mit Axt und Messer unglaublich geschickt Kufen, plan und glatt wie Glas, für einen kleinen Schlitten an.
Tolik war, wie sich herausstellte, noch am Abend irgendwohin aufgebrochen.
»Alik suchen?«
»Wahrscheinlich, ja.«
Ich war einigermaßen sprachlos. Die Tundra erschien mir damals als eine nach allen Seiten hin weit geöffnete, aber tückisch in sich selbst verschlungene Ebene, weshalb ich mir einfach nicht vorzustellen vermochte, wie man auf dieser Ebene jemanden suchen oder ihm an einem Ort, an dem er mit Sicherheit nicht vorbeikommen würde, eine Nachricht hinterlassen konnte. Zurück im Hotel, informierte ich Pjotr, dass sich unser Auf bruch wohl auf morgen verschieben werde, was ihn verdrießlich stimmte. Indes fügten sich die Umstände unbeirrt zu unserem Vorteil, wie ich erst später begriff.
Erstens: Wenn Tolik seinen Bruder nicht gefunden hätte und gezwungen gewesen wäre, Zelt, Schlauchboot und Gewehr alleine zu tragen, so hätte ihn gleich am ersten Tag unserer Wanderung Überdruss gepackt. Und der Überdruss hätte ihn nach Hause getrieben – und unseren ganzen Plan zunichte gemacht.
Zweitens: Unser Fährmann Sascha, in dessen Boot wir loswollten, hatte am Vorabend übermäßig schwer geladen, weshalb er gleich am Morgen schon wieder einen sitzen hatte. Wir kannten ihn noch nicht, und bei einem Streifzug mit der Kamera durchs Dorf begegneten wir einem ungeheuer gutmütigen Burschen, der sich von mir fotografieren ließ, sich an meinen Zigaretten bediente und sich schlecht artikuliert, aber herzlich, über seine Freude verbreitete, über seine Sympathie für uns, und überhaupt, wie gut das
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