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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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ich mich eigentlich, ihn zu sehen? Das tue ich. Warum also sollte er sich nicht auch über mich freuen? Zumal ich mit einem »Anliegen« zu ihm komme. Anliegen gefallen Grigori Iwanowitsch immer. Er geht sofort auf meinen Vorschlag ein, ins Hotel zu kommen und das Ganze zu besprechen:
    »Sofort, ich geh nur noch meine Rente abholen …«
    Dann trinken wir in der Hotelküche lange Tee (einen direkt in der Tasse überbrühten, starken, wie ich das seit Kolgujew nie aufgegeben habe). Grigori Iwanowitsch raucht mit Genuss eine Gauloise, trinkt vom frischen Tee, lutscht an einem Zuckerwürfel und hört sich offenbar mit nicht weniger großem Genuss alles an, was wir sagen.
    »Und wenn wir uns hinterm Promoj auf der Koschka absetzen lassen und dann raufgehen bis zur Westküste?«
    »Bis wohin ungefähr?«
    »Also, bis hier vielleicht, wo die Koschka mit der Insel verwächst … Da ist doch ein Fluss … die Perwaja? Und dann von der Perwaja ein Stück weiter die Küste entlang und dann ins Inselinnere, bis zu dem See.«
    »Der Traktor muss an die Perwaja, Holz holen mit der Schleppe …«
    »Wann? Morgen, übermorgen?«
    »Heut haben sie für eine Flasche zusammengelegt, da wird sich morgen kaum einer aufraffen.«
    »Und seit wann soll das Holz geholt werden?«
    »Seit Juni …«
    Na, dann brauchen wir uns damit nicht länger abzugeben! Ich wette, wir sind vor der Holzbrigade an der Perwaja! (So kam es übrigens dann auch: Als wir zwölf Tage später wieder nach Bugrino zurückkehrten, war der Traktor immer noch da.)
    Wir überbrühen noch einen Tee, schneiden Brot auf.
    »Odinzow hat gesagt, er gibt uns Benzin, wenn wir mit dem Boot fahren.«
    Grigori Iwanowitsch beugt sein ehernes Gesicht erneut über die Karte.
    Die Karte begeistert ihn sichtlich – bestimmt hat er eine so große beziehungsweise genaue noch nie gesehen. Ein paar Bemerkungen, die er beim Betrachten fallen lässt, zeigen, dass wir keinen besseren Trekkingführer finden können. Besonders verlockend ist seine absolute Hingabe, die er unserem Projekt gegenüber an den Tag legt – als wäre es nicht nur ein vernünftiges und kluges, sondern obendrein auch ganz selbstverständliches Projekt, das ihm leicht selber hätte einfallen können.
    Mit braunem Finger tickt er auf einen Strandabschnitt, der uns wegen zahlreicher kleiner, flacher Seen nicht geheuer erscheint und beruhigt uns:
    »Hier ist der Boden fest, fest …«
    Dann schweigt er; und urplötzlich – als ob es ihm erst jetzt einfiele – besinnt er sich:
    »Ich bin alt, wird anstrengend, so weit …«
    Er schaut auf die Karte, auf seine kraftvollen knotigen Hände, mit einem unverhohlen traurigen schuldbewussten Lächeln, als habe er etwas eingestehen müssen, was er vielleicht auch sich selber lieber nicht eingestanden hätte.
    »Macht nichts, ich hol meine Jungen …«
    Ob ich will oder nicht, eine Begegnung mit Alik ist nicht zu vermeiden. Der Traum hat mich nicht getrogen. Solche Träume trügen generell nicht, und was kommen muss, das kommt, dachte ich bei mir, Alik kennt meinen Traum nicht – immerhin etwas Gutes. Sofern natürlich dieser Traum ausschließlich
mein
Traum war und wir diese Begegnung am Meeresufer nicht beide geträumt haben …
    Im Übrigen kam Grigori Iwanowitsch fünf Minuten später nicht mit Alik, sondern mit jemand mir vollkommen Unbekanntem wieder, mit Tolik, seinem mittleren Sohn: vierundzwanzig Jahre alt, keinerlei Ähnlichkeit im Gesicht mit dem Vater, doch von derselben kleinen, stämmigen Statur, und ebenso stark. Grigori Iwanowitsch ist sichtlich stolz auf ihn: Er habe selber ziemliche Kraft in der Jugend gehabt, und obwohl er ganz friedfertig war, hat keiner gewagt, sich mit ihm anzulegen, seine Faust schlug zu wie ein Stempel, er hat nämlich zwanzig Jahre in der Bäckerei täglich den Teig geknetet – aus anderthalb Sack Mehl.
    »Kannst dir ja vorstellen, was für einen Schlag ich hatte! Aber die Kraft vom Großvater, die hab ich nicht gehabt. Der hat den Renen den Schädel mit einem Fausthieb aufgehauen, um das Hirn herauszuholen. Das kann in unserer Familie bloß noch der Tolja …«
    Tolja läuft vor Verlegenheit rot an, was trotz der gebräunten Haut zu sehen ist, aber insgesamt stellt er sich schnell auf die Situation ein.
    Als Erstes greift er bei den angebotenen Zigaretten zu und beugt sich gemeinsam mit dem Vater über die Karte. Grigori Iwanowitsch zeigt ihm die von mir vorgeschlagene Route über die Koschka bis zur Westküste. Aber irgendwas passt

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